Weniger Essen wegen Miete

21.10.2007 Wenn die Miete vom Mund abgespart wird. Mit einem landesweiten Aktionstag macht die Liga der freien Wohlfahrtspflege heute auf die Probleme armer Menschen bei der Wohnungssuche aufmerksam.

STUTTGART. Gabriele Grosse (56) sagt, dass sie weniger isst, damit sie und ihr 16-jähriger Sohn nicht obdachlos werden. Seit sechs Jahren wohnen die beiden in Remshalden, drei Zimmer, 80 Quadratmeter, für zuletzt 490 Euro. Es ist noch nicht lange her, da war die Miete für die alleinerziehende Mutter kein Problem, da hat sie mit einem Schreibbüro bis zu 6000 Euro im Monat umgesetzt. Dann ging erst der Auftraggeber und in der Folge ihr Büro pleite. Seit 2005 ist die gelernte Kauffrau arbeitslos und Hartz-IV-Empfängerin. Im Februar erhielt die 56-Jährige ein Schreiben: Die Miete sei zu teuer, sie übersteige die Mietobergrenze um 117 Euro.

Sie hat daraufhin über Monate im Wochenblatt die Anzeigen studiert und 184 Wohnungen, je zwei bis drei Zimmer, in einer Tabelle aufgelistet: 162 überschritten die Mietobergrenze. Bei elf hätte sich die Miete mit der aktuellen Wohnung teils überschnitten. Bei elf hat sie sich beworben, ohne Erfolg. "Wir wollen keine Hartz-IV-Empfänger", hätten ihr Vermieter bedeutet. Noch hat Frau Grosse ihre Wohnung für 490 Euro, der Mietzuschuss ist aber auf 373 Euro gekürzt worden. Die fehlenden 117 Euro spart sie sich, beim Hartz-IV-Regelsatz von 347 Euro plus 41 Euro Zuschlag für Alleinerziehende sowie 278 Euro für den Sohn, "vom Mund ab: Ich spare bei den Mahlzeiten."

Mit der Tabelle will Grosse ihre Bemühungen dokumentieren. Aus Sicht der Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg, einem Zusammenschluss von elf Wohlfahrtsverbänden, ist die Tabelle aber auch ein Beleg für einen Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Auf das Problem will die Liga heute in einem landesweiten Aktionstag aufmerksam machen.

"Dramatische Situation"
"Es ist eine unglaublich dramatische Situation für viele Menschen", schlägt Holger Luft vom Diakonischen Werk der evangelischen Landeskirche in Baden Alarm. Er fordert die Politik auf, den sozialen Wohnungsbau wiederzubeleben. Allein in Stuttgart sei die Zahl preiswerter Sozialwohnungen mit langfristiger Mietbindung von 28 000 im Jahr 1989 bis Anfang 2006 auf 13 500 gesunken, berichtet M Blocher vom Caritasverband.

Rund 600 000 Menschen im Land würden dem Druck "realitätsfremder Mietobergrenzen" unterliegen, sagt Frieder Claus, Armutsexperte beim Diakonischen Werk in Württemberg. Für Hartz-IV-Ernpfänger sei es kaum möglich, auf dem Markt eine bezahlbare Wohnung finden. Für die "dramatische Entwicklung" sei das Land mitverantwortlich, das aus dem sozialen Mietwohnungsbau fast vollständig ausgestiegen sei. Baden-Württemberg gebe aus Landesmitteln gerade noch 2,23 Euro pro Kopf der Bevölkerung für Sozialwohnungen aus, Bayern bringe es auf den sechsfachen Betrag. Der Landtag entscheidet noch in diesem Jahr über Neuregelungen zur Wohnraumförderung.

aus Südwestpresse vom17.10.2007 von Roland Muschel

Letzte Änderung: 21.11.2007