Jugendämter entziehen das Sorgerecht

Vorschaubild

05.06.2008 Schwierige Balance zwischen Kontrolle und Hilfe

Jugendämter entziehen immer öfter das Sorgerecht

Heute fällt das Urteil im Fall "Kevin". Der zweijährige Junge aus Bremen war von seinem Ziehvater brutal zu Tode gequält worden. Gerade den Behörden wurde damals vorgeworfen, sie hätten zu spät eingegriffen. Dabei entziehen deutsche Gerichte immer häufiger das Sorgerecht. tagesschau.de sprach mit dem Leiter des Deutschen Jugendinstituts über Kompetenzen und Verantwortung der deutschen Jugendämter.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stieg die Zahl der Fälle von Sorgerechtsentzug von 2004 bis 2006 um 22 Prozent. Wie erklären Sie sich einen derart deutlichen Anstieg?

Rauschenbach: Es gibt zwei Erklärungsmöglichkeiten: Zum einen haben die Probleme zugenommen. Zum anderen hat die Sensibilität für die Probleme zugenommen. Ich glaube, es ist eine Mischung aus beidem. Hinzu kommt, dass sich die Gesetzeslage zum Oktober 2005 geändert hat. Mit Paragraph 8a des Achten Sozialgesetzbuches ist der staatliche Schutzauftrag als Aufgabe der Jugendämter und der freien Träger konkretisiert worden. Damit ist auch deren Verantwortung gewachsen, einzugreifen. Ich wage deshalb die Prognose, dass die Zahlen für 2007 und 2008 noch höher ausfallen werden.

Der Staat soll für Kinder da sein, bei denen nicht sicher ist, dass ihre Eltern ihre Erziehungsverantwortung ausfüllen können. Zum Glück kann man sagen, dass auch die Hilfsangebote, die immer vor einem Sorgerechtsentzug stehen sollten, zunehmen. Insofern haben wir also nicht nur mehr Kontrolle, sondern auch mehr Hilfe. Und das ist durchaus positiv. Aber positiv ist natürlich nicht, wenn wir erkennen, dass immer mehr Eltern Schwierigkeiten haben, ihre Erziehungsverantwortung zu tragen.

tagesschau.de: Die Jugendämter beklagen selbst eine zunehmende Überforderung. Greifen sie vielleicht auch deshalb häufiger zum letzten Mittel dem Sorgerechtsentzug anstatt mit den Familien zu arbeiten?

Rauschenbach: Die steigende Zahl der Fälle von Sorgerechtsentzug ist kein Zeichen überforderter Jugendämter, sondern ein Zeichen, dass sie ihre Aufgabe ernst nehmen. Wenn man sich die gleichzeitige Zunahme der Hilfeleistungen ansieht, dann würde ich sagen, es gelingt offenbar doch etwas besser eine Balance zwischen Kontrolle auf der einen Seite und Hilfe auf der anderen Seite hinzubekommen.

tagesschau.de: Herrscht unter Jugendamtsmitarbeitern, angesichts des hohen medialen Interesses an Missbrauchsfällen, Angst davor zu spät einzugreifen?

Rauschenbach: Sicher. Wir verlagern im Moment die Entscheidung auf den einzelnen Mitarbeiter bzw. das einzelne Jugendamt, ohne dass wir ihnen angemessene Unterstützung bieten. Ich habe die große Sorge, dass bewährte und gute Mitarbeiter diese Verantwortung nicht mehr tragen wollen. Und dass dann in der Folge weniger geschultes Personen eingesetzt wird. Wir brauchen einfach gut ausgebildetes und qualifiziertes Personal. Aber vor allem fehlt den Jugendämtern die öffentliche Unterstützung. Eher wird das Jugendamt angeklagt, anstatt dass man fragt, wie muss man das Jugendamt ausstatten, damit es diesem Anspruch gerecht werden kann.

Fünf Schritte zum Entzug des Sorgerechts:

1.Anzeige beim Jugendamt durch Angehörige, Bekannte oder Betreuer des Kindes
2.Prüfung der Vorwürfe durch das Jugendamt
3.Anzeige vor dem Familiengericht
4.Prüfung der Vorwürfe durch das Familiengericht
5.Entzug des Sorgerechtes

tagesschau.de: Wer sollte dann die Verantwortung tragen?

Rauschenbach: Es sollten schon die Mitarbeiter der Jugendämter sein. Aber es muss genügend Personal da sein, das nah und eng mit den Familien zusammenarbeitet. Außerdem müssen die Strukturen innerhalb der Jugendämter so gestaltet sein, dass die Verantwortung nicht einzelnen Mitarbeitern alleine überlassen wird. Selbst wenn es in Einzelfällen stimmt, dass das Jugendamt versagt, muss ich mich doch fragen, was muss ich tun, damit ein einzelner Mitarbeiter, der eine hohe Verantwortung hat, dieser Verantwortung auch gerecht werden kann.

Das Interview führte Verena von Ondarza.
tagesschau,05.06.2008

Letzte Änderung: 05.06.2008