Das kann die Gesellschaft sprengen

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07.06.2008 Jutta Allmendinger geißelt die Raffgier der Manager und fordert größere Chancen für Geringqualifizierte

Manager nehmen ihre Verantwortung nicht wahr; die Zahl der Ausgegrenzten nimmt zu. Prof. Jutta Allmendinger warnt vor einem Zerfall unserer Gesellschaft. Sie appelliert an die Politik, endlich gegenzusteuern.

Siemens, Lidl, Telekom - was ist los in der Wirtschaft, haben Manager jeden moralischen Kompass verloren?

JUTTA ALLMENDINGER: Auf zwei Ebenen: ja. Einmal finde ich die Größenordnung von Manager-Bezügen völlig unangemessen. Und was die Bespitzelungen bei Lidl und der Telekom angeht, befürchte ich, dass wir nur die Spitze des Eisbergs sehen. Das einzig Gute an den gegenwärtigen Entwicklungen ist die zunehmende Transparenz. Nur die öffentliche Thematisierung kann solche Auswüchse stoppen.

Verträgt sich ökonomisches Gewinnstreben überhaupt mit sozialer Verantwortung?

ALLMENDINGER: Bei den alten rheinisch-kapitalistischen Familienbetrieben ging unternehmerisches Gewinnstreben noch einher mit persönlicher Verantwortung für die Mitarbeiter. Das eine schließt das andere also nicht prinzipiell aus. Aber heute gibt es andere Unternehmensstrukturen mit unsichtbaren Aktionären, internationalen Akteuren und anonymen Investmentfonds als Eigentümern. Dadurch wird persönliche Verantwortung zurückgedrängt. Und das nimmt jetzt teilweise extreme Formen an.

Hat der Markt durch Deregulierung und Globalisierung den Staat und die Politik ins Abseits gedrängt oder gibt es noch genügend Einflussmöglichkeiten nationaler Regierungen und Parlamente?

ALLMENDINGER: Die Politik muss vorbeugend eingreifen. Der Staat kann und muss Bedingungen schaffen, die es vielen ermöglichen, am Markt teilzunehmen. Zum Beispiel durch bessere Bildung: Wir müssen das ungenutzte Potenzial der bisher niedrig Qualifizierten nutzen und diesen die Chance bieten, erwerbstätig zu sein und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Es müssten auch neue Modelle der Teilhabe an Unternehmensgewinnen entwickelt werden.

Prekäre Arbeitsverhältnisse, Kinderarmut, Abstiegsängste - wie weit fortgeschritten ist die Spaltung unserer Gesellschaft schon?

ALLMENDINGER: Die tatsächliche Spaltung der Gesellschaft steht uns noch bevor. Die Anzeichen dafür sind aber bereits erkennbar, etwa das Verschwinden der Mittelschicht. Und die Zahl der ausgegrenzten Personen nimmt zu: Ein Viertel der Deutschen findet keine Verwendung auf dem Arbeitsmarkt. Selbst wenn sich die Bildungsanforderungen für bestimmte Tätigkeiten in den nächsten Jahren nicht verändern, kommt diese Gruppe sogar für einfache Jobs nicht in Frage. 26 Prozent der Männer in Deutschland sind faktisch Analphabeten, 15 Prozent sind Migranten ohne Schulabschluss. Deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind dramatisch schlecht und werden sich gewiss nicht verbessern.

Was passiert mit einer Gesellschaft, wenn immer mehr Menschen dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben?

ALLMENDINGER: In Verbindung mit der Raff-Mentalität von Managern wird der solidarische Zusammenhalt in Frage gestellt. Die Konzentration auf das eigene materielle Wohlergehen führt zur Isolation von Randgruppen, von Armen, Kranken, Alten und Migranten. Das Ausmaß der Verantwortung für andere geht zurück, die schlichteste Form sozialer Interaktion, die Anerkennung, leidet, innerhalb einer Generation und auch zwischen den Generationen. So etwas kann eine Gesellschaft sprengen.

Ist das ein neuer sozialer Tatbestand?

ALLMENDINGER: Nein, früher nannte man das soziale Schichtung oder auch Klassensystem. Wenn Menschen heute den Aufbau der Gesellschaft beschreiben, dann wählen sie als Bild nicht mehr die Zwiebel mit einer breiten Mitte, sondern die Pyramide - wenige oben, viele unten. Und sie sagen: Da gibt es keine Durchlässigkeit, keinen Aufstieg. Und die Elite schottet sich ab: in bewachten Wohnquartieren und privaten Versorgungssystemen.

Arbeit ist der Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe. Sind denn schon alle Möglichkeiten der Arbeitsmarktreform ausgeschöpft?

ALLMENDINGER: Man muss es leider anders formulieren: Zurzeit entsteht der Eindruck, dass wesentliche Reformen der Agenda 2010 zurückgedreht werden sollen, aus populistischen Gründen. Das macht mir Sorge. Sollen wir etwa das Renteneintrittsalter wieder reduzieren, obwohl sich an den demografischen Randbedingungen nichts verändert hat?

Was raten Sie der Politik?

ALLMENDINGER: Die Anstrengungen im Bildungsbereich zu verstärken, Offensiven gegen Bildungsarmut und für Weiterbildung starten. Die Fundamente legen für einen späteren Renteneintritt. Dies geht nur durch den Entwurf anderer Lebensverläufe - mit Zeiten für Pflege, Erziehung, Weiterbildung und Reorientierung. Ein einmal erworbener Bildungsgrad zieht sich als Vorteil durch das ganze Leben. Allerdings muss man am Ball bleiben: Sogar Akademiker dürfen sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen, sondern sind wegen des rascheren Verfalls von Wissen und Know-how auch gefährdet.

Info

Professor Dr. Jutta Allmendinger (51), Präsidentin des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialaforschung (WZB), lehrt an der Humboldt-Uni Bildungssoziologie, war früher tätig am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, an der Harvard Business School und leitete das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg.
SÜDWEST PRESSE,07.06.2008

Letzte Änderung: 07.06.2008