Man soll darüber reden

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14.06.2008 Positive Zwischenbilanz eines europäischen Projekts gegen häusliche Gewalt

Mit Workshops an Schulen wollen zwei Tübinger Initiativen für Mädchen- beziehungsweise Jungenarbeit Kinder und Jugendliche gegen häusliche Gewalt wappnen.

19 Workshops gegen häusliche Gewalt haben die Tübinger Initiative für Mädchenarbeit (Tima) und die Initiative Pfunzkerle für Jungen- und Männerarbeit seit Anfang 2007 an Hauptschulen im Landkreis durchgeführt. Die zweitägigen Kurse, an denen die Realschulen und Gymnasien kein Interesse zeigten, sind Teil eines von der Europäischen Kommission geförderten Projektes, das auch in Österreich und Ungarn läuft.

Dieses Projekt soll dazu beitragen, häusliche Gewalt zu enttabuisieren und Jugendliche, die von körperlicher und psychischer Gewalt zwischen den Eltern betroffen sind, zu stärken. Einerseits sollen sie Wege finden, sich selbst oder anderen zu helfen. Andererseits sollen die Workshops den Spätfolgen vorbeugen. "Häusliche Gewalt ist erblich", weiß Pfunzkerle-Geschäftsführer Armin Krohe-Amann. "Gewaltopfer greifen als Erwachsene auch oft zu Gewalt." Diesen Kreislauf gelte es zu durchbrechen.

Zur Halbzeit des auf zwei Jahre angesetzten Projektes zogen die beteiligten Organisationen gestern an der Rottenburger Hohenbergschule, an der ebenfalls ein Workshop gelaufen ist, Zwischenbilanz.

Das Thema häusliche Gewalt sollte in die Lehrpläne der Schulen aufgenommen werden, forderte Gerd Weimer, der Vorstandsvorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Baden-Württemberg, welcher mit der Koordination und Auswertung des Drei-Staaten-Projektes beauftragt ist. Lehrer/innen, so Weimer, sollten sich in der Fortbildung damit beschäftigten, um Anzeichen wie plötzliches Verstummen oder Notenabfall bei ihren Schülern erkennen und hinterfragen zu können. Schulen, Jugendhilfe und Freie Träger müssten sich stärker vernetzen, um tatkräftig Hilfe leisten zu können. Die Politik müsse die entsprechenden Mittel dafür zur Verfügung stellen.

Weimer, stellvertretender Vorsitzender der Kreistags-SPD, untermauerte dies mit Zahlen: Seit 1990 hat sich demnach die Zahl der polizeilich erfassten Misshandlungen in der Familie bundesweit verdreifacht; die Frauenhäuser nahmen im Jahr 2006 knapp 2000 Frauen mit 2150 Kindern auf. 2006 wurden in Baden-Württemberg bei 7700 Polizeieinsätzen wegen häuslicher Gewalt 2660 Platzverweise erteilt.

Kinder unter Druck

Die Zahlen belegen nach Ansicht von Hohenberg-Rektor Gunther Diehl, dass die Sensibilität für Gewalt in der Familie gestiegen ist. Dennoch sei die Dunkelziffer vermutlich sehr hoch, und weil die Opfer zum Teil unter "massivstem Druck" stünden, sei das Problem von schulischer Seite nur schwer anzugehen. "Es macht mich rasend, wenn wir Merkmale von Züchtigung sehen, die dann als Fahrradunfall deklariert werden." Im Kreistag, so der CDU-Kreistagsabgeordnete Diehl, herrsche bei diesem Thema Einigkeit. "Wir sind offen für alle Projekte dieser Art."

Die gemeinsamen Workshops der Vereine Tima und Pfunzkerle waren für 12- bis 16-Jährige konzipiert. Die anfängliche Befürchtung, die Kinder und Jugendlichen könnten durch "das massive Thema" überfordert sein, bewahrheitete sich laut Tima-Geschäftsführerin Petra Sartingen nicht. "Sie können sich sehr gut auf das Thema einlassen." Entscheidend für den Erfolg der Workshops sei es gewesen, den Schüler/innen interessiert und mit Neugierde entgegen zu kommen.

Teil der zweitägigen Kurse war der Versuch, den Begriff "Gewalt" zu definieren. Dabei habe sich gezeigt, dass die Wahrnehmung und Bewertung von (häuslicher) Gewalt individuell sehr unterschiedlich ist, so Sartingen. Eine Begrüßung wie "Hallo, du Fotze, wie geht’s" empfänden durchaus nicht alle Jugendlichen als Beleidigung.

Verbale Demütigungen zu Hause oder auf der Straße, so die Erkenntnis, hätten alle Jugendlichen schon am eigenen Leib erfahren. 50 Prozent der Workshop-Teilnehmer/innen gaben laut Sartingen an, dass sie andere Jugendliche kennen, deren Eltern Gewalt gegeneinander ausüben. "Das ist viel." Zudem habe sich während oder nach den Workshops gezeigt, dass etwa drei bis fünf Kinder pro Klasse selbst von häuslicher Gewalt in Form von Demütigungen oder Schlägen betroffen sind.

Sartingen zufolge war es jedoch nicht Ziel der Workshops, gewaltbelastete Familien zu outen. Wesentlich sei vielmehr, dass die Kinder erlebt hätten, "dass man darüber reden kann und reden darf". Wie Pfunzkerle-Geschäftsführer Armin Krohe-Amann berichtet, konnten die Jugendlichen in Rollenspielen das Zuhören und Trösten üben, zudem sei über rechtliche Aspekte gesprochen worden und darüber, wer bei häuslicher Gewalt wo Hilfe holen kann. Wichtig sei nun, dass über ein Hilfsnetzwerk sichergestellt wird, dass solche Hilferufe nicht im Sande verlaufen, betonen Sartingen und Krohe-Amann.

Der Hohenberg-Schulsozialarbeiter Martin Griesinger "fand die Workshops beeindruckend". Der Besuch von außerhalb habe den Jugendlichen signalisiert, dass das Thema wichtig ist. Einige Schüler seien hinterher zu ihm gekommen. "Die haben dann erzählt wie das ist, wenn der Vater betrunken ist und die Kontrolle verliert - und dass sie später nicht so werden wollen."

SÜDWEST PRESSE,14.06.2008

Letzte Änderung: 14.06.2008