"1,8 Prozent Wachstum reichen"

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03.12.2008 Ohne Spekulation kein Wachstum und ohne Wachstum kein Kapitalismus, meint der Geldtheoretiker Hans Christoph Binswanger und schlägt eine Reform des Geldsystems vor.

taz:

Herr Binswanger, wird der Kapitalismus diese Finanzkrise unbeschadet überstehen?

Hans Christoph Binswanger:

So könnte es zumindest scheinen. 2010 dürfte wieder ein Aufschwung einsetzen. Aber es gibt einen Unterschied: Es kommt zu einer gewissen Verstaatlichung der Wirtschaft, indem sich etwa Regierungen an Banken beteiligen oder Staatsgarantien für einzelne Branchen vergeben. Das führt dann teilweise zur Korruption, weil manche Wirtschaftszweige mit schlagkräftigen Lobbyorganisationen einen besonders direkten Zugriff auf den Staat haben.

taz:

Offiziell heißt es, der Staat werde sich aus der Wirtschaft wieder zurückziehen, sobald die Finanzkrise überwunden ist.

Hans Christoph Binswanger:

Nein, die Verstaatlichung wird dauerhaft sein. Momentan pumpen die Zentralbanken sehr viel Geld in den Markt. Der Leitzins in den USA ist zum Beispiel von mehr als 5 Prozent auf 1 Prozent gesenkt worden. Sobald der Aufschwung einsetzt, kommt es zu Inflationstendenzen. Dann müssten die Zinsen wieder erhöht werden. Doch wenn man derartige Korrekturen vornimmt, wird die Wirtschaft erneut einbrechen. Die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus nimmt zu. Die Regierungen können sich gar nicht mehr aus der Verantwortung ziehen.

taz:

Der Kapitalismus ist also in der Dauerkrise und nur noch durch Staatsinterventionen zu retten?

Hans Christoph Binswanger:

Es ist jedenfalls sehr auffällig, dass der Zeitabstand zwischen den Krisen immer stärker schrumpft.

taz:

Der berühmte Hedgefondsspekulant George Soros glaubt, dass jetzt eine Art Superblase platzt, die seit 1982 unaufhörlich gewachsen ist.

Hans Christoph Binswanger:

Damit könnte er recht haben. Die spekulativen Tendenzen nehmen zu. Das Problem des Kapitalismus ist, dass er auf Wachstum angewiesen ist, das aber zugleich die Spekulation fördert.

taz:

Warum sollte jedes Wachstum in einer Spekulationsblase enden?

Hans Christoph Binswanger:

Nehmen Sie die Aktiengesellschaften, die sehr wesentlich zu den Blasen beitragen. Für die Anleger ist es rational, sich nur einen Teil des Gewinns als Dividende auszahlen zu lassen und den Rest wieder zu investieren, um später mehr Profit zu machen. Denn die Erwartung künftiger Gewinne führt bereits heute zu steigenden Aktienkursen. Dieser Kurszuwachs ist höher, als es eine voll ausgeschüttete Dividende je wäre. Diese Logik der permanenten Reinvestitionen hat eine unheimliche Gewalt, denn das Wachstum ist exponenziell.

taz:

Und wo kommt jetzt die Spekulation ins Spiel?

Hans Christoph Binswanger:

Kaum steigt durch die Investitionen die Wahrscheinlichkeit, dass die Gewinne zunehmen und also der Aktienkurs zulegt, kommt auch die Spekulation in Gang. Spekulanten brauchen einen Trend. Bei stagnierenden Börsen wären sie hilflos. Sobald aber Profite zu erwarten sind, ist Spekulation möglich. Der ganze Prozess ist also systematisch mit der Aktiengesellschaft verbunden.

taz:

Aber diesmal ist doch keine Aktienblase geplatzt, sondern eine Hypothekenblase. Die Häuser in den USA oder in Großbritannien waren überbewertet.

Hans Christoph Binswanger:

Dahinter standen aber Banken, die ebenfalls als Aktiengesellschaft organisiert sind und zwecks Gewinnsteigerung leichtfertig Kredite ausgegeben haben. Die Spekulation findet bei allen Vermögenswerten statt: Neben Aktien sind dies Boden und Häuser, Rohstoffe und Nahrungsmittel.

taz:

Trotzdem: Ist Spekulation wirklich an Wachstum gebunden? Man kann doch auch auf fallende Kurse setzen - etwa durch Leerverkäufe.

Hans Christoph Binswanger:

Man kann nur auf fallende Kurse setzen, die vorher gestiegen sind. Nach oben ist Spekulation bis unendlich möglich, aber nach unten nur bis null. Wachstum bleibt die Basis für die Spekulation.

taz:

Die Regierungen wollen jetzt stärker regulieren. Wird das künftige Spekulationsblasen verhindern?

Hans Christoph Binswanger:

Das ist ein Kurieren an Symptomen. Man kann einige hochkomplexe Wertpapiere verbieten, die niemand richtig versteht. Aber dann werden die Spekulanten neue Tricks ausprobieren.

taz:

Die Frage ist also nicht, ob es zu einer neuen Blase kommt, sondern nur, wo und wie?

Hans Christoph Binswanger:

Das kann ich nicht genau sagen, dazu fehlt mir die Fantasie. Mir wären ja auch nicht die strukturierten Kreditverbriefungen eingefallen, die die jetzige Krise mitverursacht haben. Aber ganz sicher ist, dass eine der nächsten Blasen wieder bei den Rohstoffen und Nahrungsmitteln auftreten wird. Die Internationale Energieagentur hat kürzlich prognostiziert, dass der Ölpreis auf 200 Dollar pro Barrel steigen wird. Ein solcher Trend nach oben muss die Spekulation anreizen.

taz:

Wenn Spekulationsblasen zum Kapitalismus gehören, warum sind die meisten Wirtschaftswissenschaftler dann so überrascht von der jetzigen Finanzkrise?

Hans Christoph Binswanger:

In der klassischen Wirtschaftstheorie wird das Geld einfach ignoriert. Es spielt dort keine Rolle. Dabei ist doch beim Kapitalismus die Hauptfrage: Was ist Kapital? Für 99,99 Prozent der Menschen ist die Antwort instinktiv klar: Es ist das Geld. Nur 0,01 Prozent wollen das nicht glauben: die meisten Ökonomen. Die Neoklassik versteht unter Kapital die eingesetzten Maschinen. Geld ist für sie nur das Öl, das das System schmiert - aber eigentlich läuft die Maschinerie auch ohne dieses Öl. Die Finanzkrise zeigt jetzt, dass die Mehrheit recht hat: "money matters". Kapital ist ein Geldvorschuss, mit dem Investitionen und damit Wachstum ermöglicht werden.

taz:

Plädieren Sie für einen Kapitalismus ohne Wachstum?

Hans Christoph Binswanger:

Wachstum kann man nicht auf null senken. Man braucht Gewinne, sonst investiert niemand mehr. Denn jede Investition ist mit einem Risiko behaftet, und dafür muss es ein Entgelt in Form von Profit geben.

taz:

Das klingt wie ein Teufelskreis: Ohne Wachstum gibt es keinen Kapitalismus, aber mit Wachstum steigt der Takt der Finanzcrashs.

Hans Christoph Binswanger:Man muss den Kapitalismus so reformieren, dass er weniger aggressiv und weniger anfällig für Krisen ist. In meinem Buch "Die Wachstumsspirale" habe ich ausgerechnet, dass 1,8 Prozent Wachstum reichen würden. Dies würde auch die Ressourcen und die Umwelt schonen. Langfristig sollte diese minimale Wachstumsrate sogar noch weiter gesenkt werden.

taz:

Aber wie wollen Sie den Kapitalismus zügeln? Indem sie den Motor ausbauen, also das Geld wieder abschaffen?

Hans Christoph Binswanger:

Wir können das Geld nicht verbannen, sonst gibt es keine arbeitsteilige Wirtschaft. Aber das Geldsystem sollte reformiert werden. Ausgangspunkt könnte die Idee der "Vollgeld"-Reform sein, die auf dem Vorschlag von Irving Fisher aufbaut, dem bekanntesten US-Ökonomen der Dreißigerjahre. Der Ansatz wurde jetzt wieder aufgenommen von Joseph Huber und James Robertson. Er sieht vor, dass nur die Zentralbank das Recht zur Geldschöpfung erhält.

taz:

Das ist jetzt anders?

Hans Christoph Binswanger:

Bisher wird der allergrößte Teil des Geldes von den privaten Banken geschaffen, indem sie Buchkredite vergeben. In der heutigen Finanzkrise bleibt der Zentralbank dann nichts anderes übrig, als die faulen Kredite der Banken zu übernehmen, um einen Zusammenbruch des Systems zu verhindern. Deswegen sollte die Zentralbank künftig die Verantwortung für die gesamte Geldschöpfung bekommen. Damit würde die Zentralbank auch die Kontrolle über das Wachstum übernehmen. Anders ausgedrückt: Es soll nur noch die Zentralbank profitieren, wenn die Geldmenge steigt, weil die Wirtschaft wächst.

taz:

Was wäre damit gewonnen?

Hans Christoph Binswanger:

Das zusätzliche Geld könnte die Zentralbank an den Staat weiterreichen, um die Steuern zu senken oder die Schulden zu reduzieren. Man könnte das Geld aber auch direkt den Bürgern in Form eines Grundeinkommens zur Verfügung stellen. Gleichzeitig wäre das Finanzsystem stabilisiert, weil die Zentralbank eine viel direktere Kontrolle über die Geldmenge hätte.

taz:

Bisher haben Sie mit dieser Idee aber noch nicht viele Anhänger gewonnen.

Hans Christoph Binswanger:

Aber immerhin werden heute schon Ansätze diskutiert wie etwa Konsumgutscheine, die von der Regierung verteilt werden sollen, um das Wachstum zu stimulieren. Das geht bereits in die Richtung eines Grundeinkommens.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN

ZUR PERSON

HANS CHRISTOPH BINSWANGER, 79, ist der Erfinder der Ökosteuer und hat sich zeit seines Berufslebens mit der Geldtheorie und dem Wesen des Kapitalismus befasst. Von 1969 bis 1994 war er Professor für Volkswirtschaftslehre in St. Gallen. Sein neuestes Buch "Die Wachstumsspirale" (2006) geht der Frage nach, ob der Kapitalismus ohne ein permanentes Wachstum überhaupt denkbar ist.

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USA: DIE REZESSION IST SCHON LÄNGST DA

Die USA sind nach Angaben des Nationalen Büros für Wirtschaftsforschung (NBER) bereits im Dezember 2007 in die Rezession gerutscht. "Der wirtschaftliche Abschwung 2008 erfüllt die Kriterien einer Rezession", teilte das NBER am Montag mit. Zuvor sei die größte Volkswirtschaft der Welt sechs Jahre lang gewachsen. Der wichtigste Faktor dafür, von einer Rezession zu sprechen, sei der Verlust von bislang 1,2 Millionen Arbeitsplätzen. Der Aufschwung zwischen November 2001 und Dezember 2007 war kürzer als die vorangegangene zehnjährige Boomphase. Auch die derzeitige Talfahrt hält mit zwölf Monaten länger an als der Abschwung davor, der von März bis November 2001 gedauert hatte.

Die US-Wirtschaft schrumpfte im dritten Quartal als Folge der Finanz- und Kreditkrise um 0,5 Prozent. In den drei Monaten zuvor war sie dank eines Konjunkturprogramms und boomender Exporte noch um 2,8 Prozent gewachsen. Experten der US-Investmentbank Goldman Sachs erwarten, dass die US-Wirtschaft im vierten Quartal aufs Jahr hochgerechnet um 5 Prozent schrumpfen wird. Volkswirte rechnen für 2009 mit einem Anstieg der US-Arbeitslosenquote auf bis zu 9 Prozent.

Die New Yorker Börse reagierte auf den Bericht des NBER mit starken Verlusten. Am Montag brach der Dow-Jones-Index um fast 8 Prozentpunkte ein.

DPA, AP, TAZ

Letzte Änderung: 04.12.2008