HartzIV - Haltlose Verdächtigungen

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09.02.2010 Was hinter Betrugsvorwürfen steckt

Richten sich Hartz-IV-Empfänger bequem ein? Mit solchen Kampagnen lenken Politiker vor allem von der wachsenden Ungerechtigkeit ab, sagt Frieder Claus, Armutsreferent der Diakonie Württemberg.

Frieder Claus: Armut in Deutschland ist nur falsch verteilter Reichtum. Hessens CDU-Ministerpräsident Roland Koch kritisiert, dass manche Hartz-IV-Empfänger die Unterstützung als "angenehme Variante" des Lebens ansehen. Was wird mit solchen Äußerungen bezweckt?

FRIEDER CLAUS: Meiner Ansicht nach ist das eine inszenierte Kampagne, um in der Bevölkerung das Echo zu testen, inwieweit man nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen Einschnitte vornehmen kann. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, um die durch die Finanzkrise entstandenen Milliardenlöcher des Staates zu stopfen: Entweder man holt das Geld von den Vermögenden, den Starken, die von den exorbitanten Gewinnen profitiert hatten - oder man greift in die Sozialkassen.

Was lösen solche pauschalen Verdächtigungen aus?

CLAUS: Der Bevölkerung wird suggeriert, dass sie von den Hartz-IV-Empfängern betrogen wird.

Mit welchen Folgen?

CLAUS: Arbeitnehmer sollen sich über die Hilfeempfänger erheben, sollen dazu gebracht werden, stärker nach unten zu treten. Sozialkürzungen jedoch richten sich auch gegen Durchschnitts-Werktätige. Mit ihnen soll von sinkenden Löhnen abgelenkt werden: Millionen Menschen rutschen gegenwärtig in den Niedriglohnbereich ab. Wenn auch bei Hartz IV gestrichen wird, dann tun die eigenen Einkommenseinbußen scheinbar nicht mehr so weh.

Betrügen Hartz-IV-Empfänger denn die Bevölkerung?

CLAUS: Nein, mit Hartz IV kann man kaum betrügen. Die Steuerhinterziehung in Deutschland wird auf 80 bis 100 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Hartz IV kostet insgesamt 38 Milliarden im Jahr, die Bundesagentur benennt den Schaden durch Unehrlichkeit mit 0,2 Prozent davon. So wenig sollten wir mal bei der Steuerhinterziehung erreichen. Es ist ein Nebenkriegsschauplatz.

Was geschähe, wenn die Regierung Hartz IV kürzen würde?

CLAUS: Damit würden die Rettungsringe der Arbeitnehmer beseitigt werden. Wer in die Langzeitarbeitslosigkeit abrutscht oder mit seinem Verdienst nicht mehr sein Leben bestreiten kann, braucht Hartz-IV-Leistungen, teils als Aufstockung. Diese würde es dann aber nicht mehr geben wie bisher.

Richten sich viele Hartz-IV-Empfänger mit zusätzlicher Schwarzarbeit ganz gut ein?

CLAUS: Mit unzureichenden Hartz-IV-Sätzen provoziert man natürlich solche Überlebensstrategien. Aber die Betrugsquote ist minimal. Und gut einrichten ohne Leistung tun sich andere. Mit solchen Vorwürfen wird von der wachsenden Ungerechtigkeit abgelenkt.

Es wird beklagt, dass Familien, die Hartz IV beziehen, unter Umständen besser dastehen, als wenn Vater oder Mutter arbeiten würden.

CLAUS: Das stimmt nicht. Zum einen muss das Kindergeld berücksichtigt werden, das bei Hartz-IV-Empfängern ja verrechnet wird. Auch haben Niedrigverdiener Ansprüche auf Wohngeld, Kinderzuschlag und aufstockende Hartz-IV-Hilfe. Auf diese Weise ist man mit Arbeit immer besser gestellt als ohne.

Manche Arbeitnehmer wissen das aber nicht, oder sie gehen aus Scham nicht aufs Amt.

CLAUS: Sicher. Es gibt viele Menschen, die sich keine Hilfe holen, weil sie etwa befürchten, dass sie in den Jobcentern nur getriezt und nicht gefördert werden. Sie schlagen sich durch, auch mit der Gefahr, am Ende in der Obdachlosigkeit zu landen.

Wie lautet Ihr Fazit nach fünf Jahren Hartz IV?

CLAUS: Die Reform ist gescheitert. Es gibt jetzt eine Million mehr Langzeitarbeitslose als vor fünf Jahren. Hartz IV sollte die Zahl halbieren. Viele Menschen werden in Weiterbildungsmaßnahmen oder Ein-Euro-Jobs gesteckt und zählen dann gar nicht mehr in der Statistik. Die Armut verbreitet sich immer weiter, sie trifft die Kinder am härtesten. Unsere Armut ist aber nur falsch verteilter Reichtum.

südwest presse,09.02.2010

Letzte Änderung: 09.02.2010