"Urlaub kennen wir nicht"

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09.02.2010 Hartz-IV-Familien leben mit dem Verzicht - Improvisieren gehört zum Alltag

Ein Leben mit Hartz IV stellt Betroffene täglich vor neue Herausforderungen. In Familien kann selbst eine Einladung zum Kindergeburtstag zum Problem werden. Teilhabe an der Gesellschaft ist nicht immer möglich.

Was Sabine Lauer (alle Namen geändert) ohne ihr Auto machen würde, ist ihr ein Rätsel. "Wie soll ich dann einkaufen gehen?", fragt die alleinerziehende Mutter von vier Kindern. Allein an Getränken kommen für eine fünfköpfige Familie wöchentlich mehrere Kisten zusammen. Beim Auto kann die 43-Jährige also nicht sparen, auch wenn das Geld an anderer Stelle fehlt, etwa für Taschengeld. Derzeit müssen die drei Söhne und die Tochter von Sabine Lauer darauf verzichten. Verzicht - das gehört für die Hartz-IV-Familie zum Alltag.

Die Mutter lebt mit ihren Kindern Max, Daniel, Kevin und Lena, die zwischen fünf und 14 Jahre alt sind, in Herrenberg (Kreis Böblingen), seit acht Jahren ohne Partner. Unterhalt für die Kinder zahlte ihr früherer Mann in den vergangenen Jahren nur selten, erzählt sie, seit einem Jahr fließt gar kein Geld mehr. Dass der Staat ihre Familie auffängt, weiß Lauer zu schätzen: "In vielen anderen Ländern gibt es gar keine Unterstützung, das sage ich auch immer meinen Kindern." Aber ein Leben in der gesellschaftlichen Normalität mit Hartz IV - nein, das hält die Mutter für unmöglich.

Knapp 1400 Euro stehen der Hartz-IV-Familie jeden Monat zur Verfügung. Für Sabine Lauer bedeutet das ein Leben "mit dem Billigsten vom Billigen", auch wenn der Staat zusätzlich den großen Teil der Miete für das 115 Quadratmeter große Haus zahlt, in dem sie mit ihren Kinder wohnt. Ab und zu kauft Lauer ein richtiges Brot vom Bäcker, aber in der Regel gibt es abgepackte Scheiben vom Discounter. "Mit Hartz IV muss man sich total umstellen", betont die Mutter. Aber nicht nur bei den Lebensmitteln: Kino? "Dafür reicht es nicht." Urlaub? "Kennen wir nicht." Gaststättenbesuch? "Wir waren ein Mal in acht Jahren essen." Die Liste lässt sich noch lange fortsetzen. Wird etwa eines der Kinder zu einem Geburtstag eingeladen, darf das Geschenk allerhöchstens vier Euro kosten. Und die muss Sabine Lauer an anderer Stelle wieder einsparen.

Wenn das Bundesverfassungsgericht heute entscheidet, ob die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder verfassungskonform sind, schaut auch sie gespannt nach Karlsruhe. Die 43-Jährige kann die den Richtern vorliegenden Klagen von drei Familien "voll nachvollziehen".

Auch Markus Gärtner muss ständig "improvisieren". Er lebt mit seiner Ehefrau und zwei Kindern in Stuttgart. Seit zwei Jahren arbeitet er in einem Schnellimbiss, aber bei einem Stundenlohn zwischen sechs und acht Euro brutto ist seine Familie auf zusätzliche Leistungen nach Hartz IV angewiesen. Zuvor war der Industrie-Mechaniker über Jahre hinweg arbeitslos und allein vom Staat abhängig. Er selbst und seine Frau sind bescheiden, ein Picknick im Park ist für sie wie Urlaub. "Aber die Kinder haben es schwer", sagt Gärtner (43), "insbesondere als Jugendliche." Sie würden "gehänselt", wenn sie keine angesagte Markenkleidung tragen und sich kein Jugendmagazin oder keine Modezeitschrift leisten können. Gärtners Tochter ist 15 Jahre alt, der Sohn 14. In ihren Schulen versuchen sie, die finanzielle Situation ihrer Familie so gut es geht zu verheimlichen.

Fälle wie die Familien Lauer und Gärtner bekommt Wolfgang Engel, Geschäftsführer des Diakonieverbandes Schwäbisch Hall, täglich auf den Tisch. Oft wenden sich Hartz-IV-Familien schon in der dritten Monatswoche an ihn. "Dann werden die Lebensmittel knapp", sagt Engel. Für Familien, die nur von Hartz IV leben, reicht das Geld nach seinen Erfahrungen "vorne und hinten nicht". Immer wieder ziehen Diakonie-Mitarbeiter los, um mit Betroffenen beim Discounter einzukaufen. Durchschnittlich zehn Euro pro Hartz-IV-Empfänger und Halbjahr stellt die Diakonie dafür zur Verfügung, nicht gerade viel. Aber alle sechs Monate ein 50-Euro-Einkauf für eine fünfköpfige Familie kann einiges ausmachen - "da ist der Einkaufswagen voll".

Engels Gebiet umfasst den gesamten Landkreis Schwäbisch Hall. Etwa 7600 Menschen lebten dort von Hartz IV, etwa ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche. "Die Zahlen gehen nach oben", sagt der Geschäftsführer. Derzeit wenden sich pro Tag mindestens fünf bis zehn "Neuaufnahmen" an ihn und seine Mitarbeiter. Die typischen Notsituationen: leerer Kühlschrank, fehlendes Heizöl, kaputte Waschmaschine. Insbesondere bei Familien mit Kindern sei "das Eis sehr dünn", sagt Engel. Für ihn stellt sich dabei nicht nur die Frage, ob die Hartz-IV-Sätze für die Grundbedürfnisse reichen, sondern ob ein Kind am normalen Leben teilnehmen kann. Das hält Engel beim derzeitigen Kindersatz von 251 Euro für 6- bis 13-Jährige für unmöglich. "Es reicht nicht für den Flötenunterricht, und Kino geht auch nicht." Die Teilhabemöglichkeiten von Hartz-IV-Kindern sieht er "dramatisch eingeschränkt".

Der Paritätische Wohlfahrtsverband kämpft schon seit Jahren gegen die geltenden Regelsätze. Die Spitzenorganisation der freien Wohlfahrtspflege kritisiert nicht nur die Herangehensweise, mit der die Bundesregierung die Kindersätze berechnet - nämlich durch pauschale Abschläge vom Erwachsenensatz. Auch die Höhe hält der Verband nicht für ausreichend, um über das physische Überleben hinaus einem Kind Teilhabe zu bieten. Nach einem Modell des Paritätischen Wohlfahrtsverbands müssten Kinder von 6 bis 13 Jahren 332 statt 251 Euro erhalten. 14- bis 17-Jährigen müsste der Staat 358 statt 287 Euro zugestehen.

Bereits 2008 legte der Verband eigene Berechnungen zu Lebensmitteln, Fahrtkosten, Bekleidung, Gesundheitspflege, Bildung und Freizeit vor. Für fast alle Posten ist demnach mehr Geld notwendig als bislang bewilligt. Nur die alkoholischen Getränke und Tabakwaren, die der Staat in seinem Pauschalmodell - anteilig runtergerechnet vom Erwachsenensatz - absurderweise auch Kindern gewährt, wurden ersatzlos gestrichen. Aktuell werden dafür 13,37 Euro gezahlt.

südwest presse,09.02.2010

Letzte Änderung: 09.02.2010