Von China nach Derendingen

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09.02.2010 Erbe Elektromedizin steht zum Tübinger Standort

Nach Stagnation im Krisenjahr will Erbe Elektromedizin 2010 wieder wachsen - und neues Personal einstellen. Auch beim geplanten Medizintechnik- Studiengang mischt das Tübinger Unternehmen mit.

Will den Chinesen demnächst bei der Herstellung des Massenprodukts Einweg-Elektrode Konkurrenz machen: Christian Erbe, Geschäftsführer von Erbe Elektromedizin. Bild: Metz
21 000 Krankenhäuser gibt es in China. Hunderte davon will die Regierung in Peking nun, als Teil ihres gigantischen Konjunkturprogramms, nach westlichem Standard ausrüsten. "Da ist die Zukunft", sagt Christian Erbe. Der Geschäftsführer von Erbe Elektromedizin ist gerade erst in die Derendinger Waldhörnlestraße zurückgekehrt - aus Shanghai, wo das 1847 in Tübingen gegründete Unternehmen dabei ist, die bisherige Repräsentanz in eine neue Tochtergesellschaft umzuwandeln. In hundert Länder weltweit liefert Erbe Hochfrequenz-Chirurgiesysteme oder Endoskopie-Zubehör. Der Exportanteil liegt bei 80 Prozent.

Der Plasmastrahl findet die blutende Wunde

Ein bläulich-weißer Plasmastrahl schießt aus dem lilafarbenen Ende der Sonde. "Das Plasma springt automatisch zur blutenden Wunde", erklärt Erbe-Entwicklungsleiter Martin Hagg. Blut leitet Strom besonders gut. Nicht Hitze ist es, die bei dieser Art des chirurgischen Eingriffs ("Argon-Plasma Coagulation", APC, genannt) das Gewebe kleiner Tumore etwa in der Speiseröhre zerstört oder auch großflächige Blutungen im Magen stillt. Sondern Strom mit einer Spannung von 4000 Volt, der bei einer Endoskopie über die Sonde zur Gewebestelle geleitet wird - über ionisiertes Edelgas namens Argon, so genanntes kaltes Plasma. Die Energie dringt dabei nicht weit ins Gewebe ein, tiefere Strukturen beim Patienten werden nicht geschädigt.

Rund 150 000 der flexiblen Teflon-Sonden (Bild rechts) verkaufte Erbe im vergangenen Jahr. Umsatz: 10 Millionen Euro. Geliefert wird das steril gefertigte Grundmaterial von einer Tochter des Automobilzulieferers Elring-Klinger in Dettingen/Erms. Dort will man in den kommenden Jahren - nicht zuletzt mit Medizintechnik - den Umsatzanteil des Nicht-Automotive-Bereichs auf 20 Prozent steigern.

Demnächst könnte die branchenübergreifende Kooperation mal andersrum laufen: Die Firma Erbe hat gerade einen Schalter patentieren lassen, der durch eine Glas-Metall-Umfassung auch bei häufigem Gebrauch hundert Prozent wasserdicht ist - wichtig bei wiederverwendbaren Chirurgie-Instrumenten, die nach einer Operation stets mit 140 Grad heißem Wasserdampf sterilisiert werden müssen. Das könnte auch was für höchste Anforderungen im Motorbereich sein, sagt Christian Erbe: "Wir hoffen, dass die Automobilbranche bei uns aufspringt."

Auch bei Erbe Elektromedizin bekam man das Wirtschaftskrisenjahr 2009 zu spüren. Wenn auch bei weitem nicht so stark wie Maschinenbauer oder Automobilzulieferer. Zwischen 1994 bis 2008 gelang es den Derendingern, ihren Umsatz zu verdreifachen - auf 125 Millionen Euro. Und 2009? Es gebe "keinen Umsatzeinbruch, aber auch keinen Zuwachs", sagt Christian Erbe. Während etwa das Russland-Geschäft rasant wegbrach, stieg der Erbe-Umsatz in China im vergangenen Jahr um 25 Prozent.

"Wir wollen 2010 deutlich wachsen", sagt Erbe, der große Erwartungen an die Märkte in Asien, in Brasilien, im Nahen und Mittleren Osten hat. Keiner der 400 in Tübingen Beschäftigten (600 sind es weltweit) musste 2009 kurzarbeiten, es gab keine Entlassungen.

Mittlerweile zieht das Geschäft so stark an, dass Christian Erbe bereits wieder Neueinstellungen plant - über 20 sollen es 2010 werden, vor allem in der Entwicklungsabteilung. Dort arbeiten schon heute 80 Ingenieure, Physiker und Biochemiker - und damit mehr Mitarbeiter als in der Produktion. Forschung ist entscheidend: "Wir können uns auf dem Weltmarkt nur als Innovationsführer behaupten", sagt Erbe.

Dafür braucht die Firma hochqualifiziertes Personal. Doch derzeit werde man "nicht mit Bewerbungen überschwemmt", sagt Entwicklungschef Hagg. Da ist es nur konsequent, dass Erbe sich bei der Gründung des neuen Studiengangs Medizintechnik engagiert. Der startet im kommenden Wintersemester an den Universitäten Tübingen und Stuttgart mit 120 Studienplätzen. Träger ist das Interuniversitäre Zentrum für Medizinische Technologien Stuttgart-Tübingen (IZST). Christian Erbe will sich an einer Stiftung beteiligen, die den neuen Studiengang unterstützen soll. Außerdem arbeitet der Unternehmer, der seit Jahren beste Kontakte zu Universität und Uni-Klinikum pflegt, am Curriculum mit.

Ein anderes Thema ist die Attraktivität der Arbeitsplätze für das umworbene Forschungspersonal. Wichtig dabei: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Geteilte Arbeitsplätze, flexible Arbeitszeiten, firmeneigene Kinderbetreuung - "wir diskutieren gerade intensiv", sagt Christian Erbe, und führt als Beispiel das mehrfach für seine familienfreundliche Beschäftigungspolitik ausgezeichnete Tübinger Textilunternehmen Rösch an.

Auch jenseits der Forschung ist Auslagerung bei Erbe kein Thema. Erst 2008 wurde in Derendingen für acht Millionen Euro ein neues Logistikzentrum gebaut. "Wir haben uns bewusst dafür entschieden, den Vertrieb hier zu behalten", sagt Christian Erbe - obwohl es die teuerste Variante war.

Demnächst wollen die Tübinger sogar den Chinesen Konkurrenz machen - ausgerechnet beim Massenprodukt Einweg-Elektroden, die in der Herstellung nur rund 60 Cent kosten. Trotz höherer Löhne: "Das geht in Tübingen preiswerter", glaubt Erbe - dank besserer Maschinen, effizienterer Produktions- und Vertriebsabläufe. Bereits diesen Herbst soll die Elektroden-Produktion in Derendingen anlaufen: "Das ist unsere Hausaufgabe für 2010."

Kommentar in der Montagausgabe des TAGBLATTs.

Stetes Wachstum, hoher Exportanteil: Medizintechnik boomt in der Region
70 Unternehmen, 4200 Beschäftigte, ein langjähriges Umsatzwachstum um durchschnittlich sieben Prozent: Medizintechnik boomt in der Region Neckar-Alb - sie umfasst die Kreise Tübingen, Reutlingen und Zollernalb. Der Gesundheitsmarkt mit bereits über vier Millionen Beschäftigten "ist der wichtigste Wachstums- und Beschäftigungssektor in Deutschland", heißt es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Eine bedeutende Rolle dabei spielt die Medizintechnik. Dies nicht nur angesichts der älter werdenden Bevölkerung, auch der Export wird immer wichtiger. Deutschland ist in dieser Branche, nach den USA, weltweit die Nummer 2. "Wachstumsmotor Medizintechnik" heißt die Serie, in der das TAGBLATT von heute an regionale Medizintechnik- und Biotechnologie-Unternehmen vorstellt - ebenso wie deren zunehmende Kooperation mit Hochschulen und mit Firmen etwa aus den Bereichen Textil oder Automobil.

scwäbisches tagblatt, 08.02.2010

Letzte Änderung: 09.02.2010