HARTZ IV: Sehenden Auges

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10.02.2010 So nicht - mit zwei Worten lässt sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sätzen zusammenfassen.

Die Karlsruher Richter haben ein Grundsatzurteil zur Höhe des Existenzminimums für alle getroffen, das der Staat garantieren muss, und nicht nur die Leistungen für Kinder unter die Lupe genommen, um die es in den Klagen eigentlich ging. Das kann ein Beitrag zum sozialen Frieden in Deutschland sein. Nur eines heißt das Urteil eindeutig nicht: Es muss nicht zwangsläufig mehr Geld für alle Empfänger geben.

Denn in Bausch und Bogen haben die Richter weder die Methode der Berechnung verdammt noch die Höhe der Sätze - im Gegenteil: Zumindest für Erwachsene haben sie diese sogar im Prinzip ausdrücklich gebilligt und nur mehr Transparenz bei der Berechnung im Detail gefordert. Die Politik ist zu willkürlich vorgegangen. Das sollte sich rasch korrigieren lassen.

Anders sieht es bei den Kindern aus: Dass die Verfassungsrichter deren Sätze kippen würden, war abzusehen. Es ist ja auch ein Aberwitz, einfach 60 bis 80 Prozent vom Anspruch der Erwachsenen zu nehmen, ohne genauer zu prüfen, ob das angemessen ist. Hier ist die Regierung sehenden Auges und damit unnötig in eine Niederlage vor dem höchsten deutschen Gericht gelaufen, und das ist höchst peinlich. Mit mehr Sorgfalt beim Gesetzemachen wäre das zu vermeiden gewesen - genau so wie bei zahlreichen anderen Baustellen von Hartz IV.

Dafür verantwortlich sind zuallererst SPD und Grüne. Schließlich hießen der Kanzler Gerhard Schröder und der Arbeitsminister Wolfgang Clement, als die Hartz-Gesetze im Rahmen der Agenda 2010 von der rot-grünen Regierung beschlossen wurden. Unter tätiger Mithilfe der Union, wohlgemerkt. Ein Stück weit gestanden die Sozialdemokraten auch ihren Fehler ein, als sie Mitte 2009 in der großen Koalition den Satz für Schulkinder etwas anhoben. Vorausschauender wäre es gewesen, wenn der Arbeitsminister schon damals die Behandlung der Kinder grundsätzlich geändert hätte. Aber die Politik ging wieder einmal den scheinbar einfacheren Weg, sich vom Verfassungsgericht vorgeben zu lassen, was sie tun soll.

Genau das haben die Karlsruher Richter nicht gemacht, und dafür verdienen sie deutliches Lob. Die Politik hat Gestaltungsspielraum, betonen sie ausdrücklich. Wer aus ihrem Urteil herauslesen will, wie hoch die Hartz-IV-Sätze sein müssen, ist auf dem Holzweg. Zumindest den Weg haben sie angedeutet: Ausgangspunkt können für Kinder wie für Erwachsene die Ausgaben von Geringverdienern sein. Details dagegen müssen die Politiker entscheiden. Gut möglich, dass es am Ende insbesondere für Kinder mehr Geld gibt. Aber das steht erst am Ende einer längeren Prüfung fest. Es wäre gefährlich, heute schon die Hoffnung auf bestimmte Beträge zu schüren.

Dabei ist es schon erstaunlich: Für Hartz IV muss der Staat deutlich mehr Geld ausgeben als für Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die es bis 2004 gab. Trotzdem sind die Bürger unzufriedener. Auf Hartz IV angewiesen zu sein, gilt als Stigma. Viele leiden sehr darunter. Andere haben sich dagegen gut eingerichtet oder nutzen den Sozialstaat aus. Schon weil es für alle Fälle aufrührende Beispiele gibt, ist die sachliche Abwägung schwierig.

Der Staat muss das Existenzminimum garantieren. Er muss aber auch dafür sorgen, dass sich Arbeit lohnt. Beide Anliegen unter einen Hut zu bekommen, wird immer schwieriger in einer Wirtschaft, die sich im internationalen Wettbewerb behaupten muss. Eine für alle befriedigende Lösung ist unmöglich: Entweder die Empfänger haben das Gefühl, zu schlecht wegzukommen, oder die Steuerzahler, zu sehr ausgebeutet zu werden - eine Gratwanderung. DIETER KELLER

südwest presse,10.02.2010

Letzte Änderung: 10.02.2010