Papier liest Hartz die Leviten

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10.02.2010 Gericht fordert neue Berechnungsgrundlage und bemängelt die Versorgung der Kinder

Die Hartz-IV-Sätze sind verfassungswidrig. Sie müssen für Erwachsene wie für Kinder neu berechnet werden. Ob das allerdings mehr Geld bedeutet, ist trotz großer Hoffnungen von Sozialverbänden offen.

Hans-Jürgen Papier, Vorsitzender Richter des Ersten Senats des Bundesverfassungerichts, verkündet das Urteil zu den Hartz-IV-Regelsätzen für Kinder. Foto: AP Für Ursula von der Leyen sind die Kinder die großen Sieger. Die Bundesarbeitsministerin saß selbst in der ersten Reihe in Karlsruhe, als das Bundesverfassungsgericht die Berechnung der Hartz-IV-Sätze als verfassungswidrig kassierte. Ob das allerdings mehr Geld für Kinder von Langzeitarbeitslosen bedeutet, ließ die CDU-Politikerin offen: Es wäre "unseriös, nur über Zahlen zu spekulieren". Ihre Juristen müssen erst einmal das Urteil prüfen.

Für Hans-Jürgen Papier war es wohl das letzte große Urteil, das er als Präsident des obersten deutschen Gerichts verkündete: Der 66-Jährige geht eigentlich Ende des Monats nach zwölf Jahren in Pension. Doch vermutlich muss er etwas länger ausharren, weil noch kein Nachfolger bestimmt ist. Er und seine sieben Kollegen nahmen sich das Recht zu einem Rundumschlag: Eigentlich ging es nur darum, ob die Sätze für Kinder hoch genug sind. Aber wie Papier bereits bei der mündlichen Verhandlung im Oktober angedeutet hatte, urteilten sie über alle Hartz-IV-Sätze.

Es fielen große Worte: Die Richter bemühten den ersten Satz des Grundgesetzes - "Die Würde des Menschen ist unantastbar" -, um daraus abzuleiten, dass jeder Bürger Anspruch auf ein "menschenwürdiges Existenzminimum" hat. Dazu gehöre nicht nur die "physische Existenz", sondern auch ein "Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben", was immer das heißen mag. Jedenfalls ist dieser Anspruch durch die geltenden Regeln verletzt, trug Papier in hölzernem Juristendeutsch vor.

Da jubelte schon mancher Kritiker der Regelleistungen. Doch ein Satz war leicht zu überhören: Die tatsächlich gezahlten Sätze, ob an Erwachsene oder an Kinder, "können zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht als evident unzureichend angesehen werden". Auf gut Deutsch: Es gibt nicht unbedingt einen Anspruch auf mehr Geld. Konkrete Sätze festzulegen, ist nicht Sache der obersten Richter, sondern des Gesetzgebers, und der hat dabei Gestaltungsspielraum - Hauptsache, er errechnet die Ansprüche in einem transparenten und sachgerechten Verfahren, also realitätsgerecht. Genau das ist bisher nicht der Fall.

Vernichtend fiel das Urteil über die Versorgung für Kinder aus: Der Gesetzgeber hat sich nicht die Mühe gemacht, ihren Bedarf zu ermitteln, sondern einfach vom Satz der Erwachsenen "freihändig" und ohne Begründung 40 Prozent für jüngere und 20 Prozent für ältere Kinder abgezogen. Dabei blieb insbesondere der "existenzielle Bedarf" von Kindern wie Schulbücher, Schulhefte und Taschenrechner unberücksichtigt. Ohne sie "droht hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen". Dass es hierfür neuerdings zusätzlich 100 Euro pro Schuljahr gibt, "wurde offensichtlich freihändig geschätzt". Künftig muss also für Kinder eine eigene nachvollziehbare Rechnung aufgemacht werden.

Dagegen bekam das Verfahren, um das Existenzminimum von Erwachsenen zu ermitteln, im Prinzip das Urteil "akzeptabel". Es geht aus von der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe für die 20 Prozent der Haushalte mit dem niedrigsten Einkommen - für die Verfassungsrichter "nicht zu beanstanden". Die Ergebnisse hat die Politik allerdings an einigen Punkten gekürzt. Das ist den Richtern zu willkürlich; sie verlangen eine empirische Grundlage.

Die statistischen Daten werden nur alle fünf Jahre erfasst. Derzeit basieren sie auf dem Jahr 2003. Dazwischen werden sie jährlich um den gleichen Prozentsatz erhöht wie die Renten. Die steigen aber nicht so schnell wie die Bruttolöhne, sondern werden um den "Nachhaltigkeitsfaktor" gekürzt. Die Richter vermissen dabei den Bezug zum Existenzminimum.

Dass Paare zweimal 90 Prozent des Regelsatzes von Ledigen bekommen, billigte das Gericht - wenn der Ausgangssatz richtig ermittelt wird.Einen neuen Anspruch führte es für einen "unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf" ein, der über den normalen Regelsatz nicht abgedeckt ist. Darunter fällt nicht etwa der Ersatz des defekten Kühlschranks.

Experten nannten als Beispiel den Fall, dass Partner nach der Trennung in unterschiedlichen Städten wohnen und die Kinder regelmäßig zwischen diesen Orten herum fahren müssen. Nur in diesem Fall haben die Betroffenen sofort Anspruch auf Geld. Für Anträge sind die Grundsicherungsstellen zuständig, erklärte die Bundesagentur für Arbeit. Ansonsten gilt das bestehende Recht bis Ende dieses Jahres weiter. Die neu berechneten Sätze müssen Anfang 2011 in Kraft treten - ein gewaltiger Zeitdruck.

Von einer "Ohrfeige für die Regierung" war in den Reaktionen viel die Rede, nicht nur bei den Sozialverbänden, sondern auch bei der Fraktionschefin der Grünen, Renate Künast. Ganz schön mutig. Schließlich saß sie als Verbraucherministerin mit am Kabinettstisch, als Rot-Grün das Gesetz beschloss. Dagegen gab sich SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, damals als Kanzleramtschef mit federführend, erstaunlich wortkarg: Das Urteil sei "nicht ganz unerwartet".

Ob die Neuregelung "gut und gerne zehn Milliarden Euro" kostet, wie Künast argwöhnte, lässt sich noch nicht sagen. Unions-Haushälter Norbert Barthle gab erst mal Entwarnung: Für ihn ist nicht ausgemacht, dass die Ausgaben ab 2011 steigen. Das sieht die Caritas anders: Sie forderte für Kinder 21 bis 42 Euro pro Monat zusätzlich, das "Bündnis Kindergrundsicherung" 500 Euro Kindergeld für alle.

südwest presse,10.02.2010

Letzte Änderung: 10.02.2010