Nach dem Gericht ist vor dem Gericht

09.11.2007 Passen Sie auf, wen Sie mittags in der Kantine zum Essen einladen. Ihnen könnte danach der Prozess gemacht werden. Warum ein Stuttgarter Unternehmen wegen 2,80 Euro einen Mitarbeiter verklagte.

An jenem Tag im Juli 2006 ging Gerhard Schönfeld wie jeden Tag zum Mittagessen. In die Betriebskantine seines Arbeitgebers, des Stuttgarter Verlagsauslieferers Koch, Neff & Oetinger. Er hatte einen Gast dabei: Ursula Schorlepp, eine Gewerkschafterin von Verdi. Es war ein spontanes Essen. Schorlepp hatte einen Termin beim Betriebsratschef gehabt, und Schönfeld, ebenfalls im Betriebsrat der Firma, wollte noch etwas mit ihr bereden.
Passen Sie auf, wen Sie mittags in der Kantine zum Essen einladen
Er meldete seine Bekannte beim Pförtner an, und ging mit ihr in die Kantine. Er nahm Gemüse, sie das Fischfilet mit Soße. Sie plauderten, es war herrlich, sie gingen zur Kasse, und Schorlepp suchte in ihrem Rucksack nach ihrer Geldbörse. "Ach lass mal", sagte Schönfeld, "ich mach das schon."
Die Soße, so wird sich Schorlepp später erinnern, schmeckte einfach toll. Und die Verdi-Mitarbeiterin hätte sich wohl nie träumen lassen, dass alles, die Soße, das Essen, das spontane Treffen, die Szene an der Kasse, ja sogar ihre Kleidung, Monate später einmal als Thema vor Gericht landen würde.
Keine zwei Wochen nach dem Essen erhält Gerhard Schönfeld zunächst eine Abmahnung von seinem Arbeitgeber. Er habe seine Pausenzeit überzogen, heißt es. Einige Tage darauf folgt die Kündigung. Monate später, im Januar dieses Jahres, argumentiert das Unternehmen vor Gericht, Gerhard Schönfeld habe die Firma betrogen. Er habe Ursula Schorlepp zum Mitarbeiterpreis eingeladen, statt den erforderlichen Zuschlag von 100 Prozent für Gäste zu bezahlen. Er habe an der Kasse nicht deutlich genug gemacht, dass Schorlepp eine Besucherin sei. Dadurch sei das Unternehmen um 2,80 Euro geschädigt worden und das Vertrauen nachhaltig gestört. "Als Arbeitgeber gehen wir bei jeder uns bekannt gewordenen Straftat unabhängig von der Schadenshöhe konsequent vor - auch bei Betriebsräten", erklärte Oliver Voerster, einer von zwei Geschäftsführern bei Koch, Neff & Oettinger, am Mittwoch gegenüber der FTD.
Schorlepp, die in erster Instanz als Zeugin geladen wird, sagt aus, Schönfeld habe der Kassiererin deutlich gemacht, dass sie, Schorlepp, ein Gast sei, ein "externer Gast". Und auch Schorlepp betont, er habe unter Zeugen erklärt, wer seine Begleiterin sei.
Koch, Neff & Oetinger, ein Familienunternehmen, das 2004 sein 175-jähriges Bestehen feierte, verliert in der ersten Instanz. Die Richter konnten keine Betrugsabsichten erkennen. Das Unternehmen zieht vor das Landesarbeitsgericht Stuttgart.
Die Firmenanwälte, so berichtet die "Stuttgarter Zeitung", argumentieren, die Kassiererin habe nicht erkennen können, dass Schorlepp eine externe Person sei. "Weil die Besucherin klein ist, konnte die Kassiererin ihren Besucherausweis am T-Shirt nicht sehen", zitiert die Zeitung die Kläger. 1,68 Meter, so wird vor Gericht festgestellt, misst Schorlepp. "Ich sollte im wahrsten Sinne des Wortes klein gemacht werden", sagt sie der FTD. Rückblickend bliebe ihr "die Gräte im Halse stecken". Sogar die Länge des T-Shirts, ob es bis zur Hüfte oder bis zum Bauch reichte, und ob sich dadurch vielleicht das Besucherschild verdreht haben könnte, war offenbar in der ersten Instanz Gegenstand der Verhandlung.
Fest steht: Irgendjemand muss nach jenem Mittagessen im Juli 2006 ganze Detektivarbeit geleistet haben. Da war der Passierschein von Schorlepp, die Quittung fürs Essen, der Fisch, die Soße, das Gemüse. Und da war das Geraune im Betrieb, man wolle auf diese Weise ein unbequemes Betriebsratsmitglied loswerden. Und der lästigen Verdi-Tante gleich mit den Appetit verderben. Schließlich war das Unternehmen ja aus der Tarifbindung ausgestiegen. Und Schönfeld hatte sich als Betriebsratsmitglied für die Belegschaft eingesetzt. Um ihn bildet sich die Solidaritätsgruppe "Gemeinsam mit Euch bei Koch, Neff und Oetinger".
Diese Woche nun haben sich beide Seiten auf einen Vergleich geeinigt. Schönfeld, der inzwischen vom Kundenbetreuer zum Sachbearbeiter degradiert worden war - wogegen der Betriebsrat wiederum geklagt hatte -, soll nun eine adäquate Stelle erhalten. Die Abmahnung soll aus der Personalakte gestrichen und sein Gehalt wieder angeglichen werden. Alles in Butter also?
Nun, die Firma hat ein Widerrufsrecht bis zum 9. November. Bis dahin kann die Geschäftsführung entscheiden, ob sie gut findet, was ihre Anwälte ausgehandelt haben. Geschäftsführer Voerster äußerte sich am Mittwoch auf Anfrage der FTD nicht, ob die Sache für das Unternehmen erledigt sei. Laut Kantinenkreisen soll er einen "ziemlich eigenen Kopf haben". Könnte also gut sein, dass in dem Fall noch längst nicht alles gegessen ist.
Finanzial Times Deutschland,01.11.07

Letzte Änderung: 21.11.2007