Flüchtlingsdrama
Das Ausmaß der jüngsten Flüchtlingstragödie vor den Kanarischen Inseln ist vermutlich noch größer als befürchtet. Offenbar sind fast 90 Menschen ertrunken.
Immer wieder fragt John: "Haben Sie was gehört?" Doch die Mitarbeiter des Roten Kreuzes auf Teneriffa schütteln den Kopf, versuchen dem 24-jährigen irgendwie Mut zu machen. Der junge Ghanaer ist einer der 48 Afrikaner, die
das jüngste Flüchtlingsdrama vor den Kanarischen Inseln überlebt hat.
Doch von seinen fünf Brüdern und acht Freunden weiß er seither nichts. "Ich suche sie", wiederholt er mit tränenerstickter Stimme.
Sie alle saßen in dem Boot, dass am Donnerstag bei schwerer See rund 170 km südlich von Teneriffa kenterte. Erst jetzt wurde das ganze Ausmaß der Tragödie deutlich: Nach Aussage 48 Geretteten waren mindestens 135
Menschen aus Ghana, Gambia oder Liberia am Bord, fast 90 von ihnen ertranken demnach.
Es ist das schlimmste Flüchtlingsdrama, die sich vor den Kanaren ereignet hat. Hoffnung auf weitere Überlebende gibt es nicht. Am Samstag wurde die Suche eingestellt.
John und die anderen werden von Psychologen betreut. "Sie mussten hilflos mit ansehen, wie ihre Weggefährten ertranken und sind stark traumatisiert", sagte Austin Taylor, Einsatzleiter des Roten Kreuzes. Doch selbst einige der
erfahrenen Retter stehen unter Schock, und dies lässt erahnen, wie dramatisch der Einsatz war.
Was sich in jener Nacht im Atlantik abspielte, glich einem Albtraum, wie aus den Schilderungen der Einsatzkräfte hervor geht: Als der Rettungskreuzer "Luz de Mar" (Meereslicht) bei Sturm und peitschender See dort eintrifft, wo ein
Militärflugzeug die Flüchtlinge zuvor gesichtet hatte, steht ihr Leck geschlagenes Boot bereits halb unter Wasser. Der Außenbordmotor ist ausgefallen.
"Bloß nicht bewegen, bleibt sitzen!" schreien die Retter der verängstigten Afrikanern auf englisch und französisch immer wieder zu, während sie versuchen, sich dem Kahn zu nähern.
Doch einige der Insassen springen in Panik auf, bringen das Boot zum Schaukeln. Eine fünf Meter hohe Welle lässt sie kentern. Alle stürzen ins Meer, verzweifelte Hilfeschreie dringen durch die Nacht.
Mit Tauen gesichert springen einige Retter hinterher, setzen dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel. Andere werfen Rettungsringe und Gummiboote ins Wasser. 48 Afrikaner können gerettet werden, die übrigen verschwinden in den
Fluten.
Für den Traum von einem besseren Leben in Europa haben John und die anderen mit ihren Familien viel Geld aufbringen und sich auf Jahre verschulden
Müssen. Die Schleppermafias verlangen für die lebensgefährlichen Überfahrten meist mehrere tausend Euro.
Den Höllentrip hat John zwar überlebt, doch nun steht er vor einer ungewissen Zukunft: Er wurde in ein Aufnahmelager gebracht, und wenn er innerhalb von 40 Tagen nicht in seine Heimat abgeschoben werden kann, wird er auf
spanische
Festland geflogen und dort seinem Schicksal überlassen - mit einem Abschiebebescheid in der Tasche, die ihm legale Arbeit unmöglich macht.
Südwestpresse, 23.07.07
Letzte Änderung: 21.11.2007