Zwangsheirat

20.08.2007 Vor Verschleppungen sind Mädchen auch in Deutschland nicht sicher

Plötzlich ist ein Platz leer und ein Mädchen verschwunden. Offiziell, um Urlaub im Land der Eltern zu machen. Viele kommen nicht zurück, denn sie wurden gegen ihren Willen verheiratet. Zwangsheiraten gibt es. Hilfsorganisationen beklagen das. Doch sie stoßen auf viel Ignoranz.
Immer wieder wandert Selmas Blick zur Schulbank in der dritten Reihe. Der Platz ihrer Freundin ist leer. Hatice ist aus den Ferien nicht zurückgekommen. Damit wurden die schlimmsten Befürchtungen der beiden Mädchen wahr. Hatice (Name von der Redaktion geändert) hatte Angst - schon Monate vor der Sommerzeit. Woche für Woche wuchs der druck ihrer Familie, der sich manchmal auch in Schlägen entlud.
Ihre Eltern hatten etwas vor, mit ihr, der 15-jährigen. Hatice spürte das. Während der Ferien in der Türkei sollte etwas passieren. Von Hochzeit wurde gemunkelt. Offen sprach es niemand aus. Das Mädchen war längst versprochen. Ihre Familie hatte die Zukunft ihrer Tochter schon vor Jahren geplant. Für Hatice war das lange ohne Belang. Sie war ja noch so jung, steckte voller Mädchenträume - bis mit dem Getuschel die Angst kam.
Hatice wollte nicht im Heimatland der Eltern verheiratet werden. Sie wandte sich an nächstgelegene Jugendamt, dass die Minderjährige in ein Kinderheim steckte. Die Mutter holte sie zurück mit Beschwichtigungen. Doch diese waren nur Geschwätz. Der Druck auf das Mädchen blieb. Beim zweiten Anruf glaubten ihr die Mitarbeiter des Jugendamtes nicht mehr.
Dabei war Hatice in Gefahr. Einen Tag, nachdem die Polizei den Eltern einen Besuch abstattete, war die 15-jährige weg, offiziell auf Urlaub in der Türkei.
"Das war ein typischer Fall, in dem Behörden versagt haben", sagt Sibylle Schreiber, Referentin zum Thema Gewalt im Namen der Ehre, bei der Frauenorganisation Terre des Femmes. Viel zu oft, so Schreibers Erfahrung, versuchten Behörden ihr zögerliches Handeln mit "kulturellen Eigenarten" oder dem Hinweis auf "Familienangelegenheiten" zu begründen. Sibylle Schreiber ärgert das: "Das Thema ist in den Medien, aber die Hilfsinstanzen, wie Jugendämter und manchmal auch die Schulen, sind nicht sensibilisiert."
Das war auch von der Kriseneinrichtung Papatya bestätigt. "Wir haben inzwischen mehr Ärger mit den Ämtern als mit den Eltern."
Die Ignoranz hinterlässt Wut. "Wer Zwangsheiraten verhindern will, muss früh eingreifen" , heißt es bei Terre des Femmes. Und er muss den Kontakt zu spezialisierten Einrichtungen suchen.
"Viele Ämter scheuen die Kosten", beklagt Papatya. Statt einzugreifen würden Minderjährige nach Hause geschickt oder an Kinderheime oder Frauenhäuser weitervermittelt. Die seien aber mit dem Schutz und der Betreuung der von Zwangsheirat bedrohten Mädchen und Frauen überfordert.
Manchmal hapert es an der Anonymität, manchmal am Konzept. Sibylle Schreiber: "Die Mädchen sind sehr Familien orientiert." Trauen sie sich, aus dem Familienverbund auszubrechen, bräuchten sie Familienersatz, beispielsweise bei Schicksalsgenossinnen. Und sie müssen trainiert werden für das Leben in Anonymität.
Denn nicht nur die so genannte Familienehre steht auf dem Spiel, wenn sich Mädchen dem Wunsch der Eltern widersetzt. Oft sind auch massive wirtschaftliche Interessen betroffen. Mädchen, die in Deutschland aufgewachsen sind, werden auch deshalb mit jungen Männern im Heimatland der Eltern verheiratet, damit diese im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland einreisen können. Das ist wirtschaftlich attraktiv.
Ferien-Heiraten werden in vielen Ländern praktiziert. Die Terre des Femmes-Expertin weiß von Fällen aus Tunesien, Syrien, Serbien, Montenegro, Afghanistan, dem Libanon und dem Irak. Ein frühes Heiratsversprechen ist in diesen Ländern "für die Familie bindend".
Bis hin zu Morddrohungen gegenüber den Kindern nach dem Motto: "Du weißt, was passiert, wenn du dich nicht entsprechend verhältst." Immer häufiger wird Terre des Femmes kontaktiert.
"Haben wir 2004 noch durchschnittlich acht Fälle betreut, sind es heute 14", sagt Sibylle Schreiber. Besonders um die Sommerferienzeit nehmen dort die Anfragen zu. Zur Hälfte wenden sich Mädchen in ihrer Not selbst an die Organisation, in den anderen Fällen nehmen Freundinnen, Lehrerinnen oder der heimliche Freund des gefährdeten Mädchens den Kontakt auf.
"Wenn sie erst in Afghanistan oder im Irak sind, sind wir machtlos." Wichtig sei, vor der Ausreise der Mädchen zu handeln und den Gefährdeten so viele Informationen wie möglich an die Hand zu geben. Beispielweise die, dass sie
- eine Kopie des Passes bei sich tragen,
- Kontaktadressen im Ausland bei Freundinnen hinterlassen,
- Ein eigenes Handy mitnehmen,
- Mit Kontaktadressen von Frauenhilfsorganisationen in ihrem Urlaubsland versorgt sind.
Auch die deutsche Staatsbürgerschaft, die junge Menschen ab 16 Jahren auch ohne Einwilligung der Eltern erwerben können, hilft, nach Einschätzung von Sibylle Schreiber. Dann können nicht nur die deutschen Botschaften vor Ort eingreifen, dann sei auch das Rückkehrrecht gesichert. Ausländer, die Deutschland länger als sechs Monate verlassen, verlieren ihren Aufenthaltstitel. Das gilt auch für Mädchen, die von Eltern ins Ausland verschleppt und dort ohne Papiere und Geld zurückgelassen werden.
Doch auch mit der Rückkehr nach Deutschland, dann mit dem angetrauten Ehepartner, ist der Druck nicht gebannt. Eine Ehe unter Zwang kann zwar innerhalb eines Jahres annulliert werden. Die Frage ist aber, wie schnell sich Betroffene innerlich von den Familien lösen können.
"Zwölf Monate reichen da meist nicht." Terre des Femmes macht sich stark für eine Verlängerung der Fristen.
Noch ist Hatice in der Türkei. Terre des Femmes hat dort Kontakt mit der Familie aufgenommen. "Wir wussten ausnahmsweise wo das Mädchen ist." Eine Anwältin wurde eingeschaltet. Auch türkische Behörden griffen ein. Zwangsheiraten sind auch im Land am Bosporus offiziell verboten. Der Druck von außen hat eine Hochzeit bislang verhindert. Wie lange das so bleibt, ist ungewiss.
ONLINE-INFO:
www.frauenrechte.de
www.papatya.org
Südwestpresse, 18.08.07

Letzte Änderung: 21.11.2007