Obdachlosigkeit unter Frauen nimmt zu

21.08.2007 Wirtschaftlicher Aufschwung geht an den Ungelernten schnurstracks vorbei

Die Obdachlosigkeit in Reutlingen hat nach den Zahlen der AWO zugenommen - und zwar um unglaubliche 400 Prozent von 1990 bis heute. Angestiegen ist im gleichen Zeitraum aber auch der Prozentsatz der Frauen unter den Wohnsitzlosen - um mehr als das Fünffache.
"Frauen vertuschen Obdachlosigkeit viel länger als Männer", sagt Rita Wilde von der Arbeiterwohlfahrt in Reutlingen. Die Sozialpädagogin weiß, wovon sie spricht, schließlich hilft sie wohnsitzlosen Frauen in der AWO-Beratungsstelle in der Rommelsbacher Straße weiter. Erst, wenn vertuschen nicht mehr hilft, wenn die Partnerschaft zum Martyrium wird, wenn Verwandte, Bekannte, Freunde die Wohnungslose nicht mehr für ein oder zwei Nächte aufnehmen wollen - dann reißt auch der letzte Faden des sozialen Netzes und die Frauen stehen auf der Straße.
"Männer sind da anders, die haben diese sozialen Kontakte oft gar nicht", ergänzt Gisela Steinhilber, Geschäftsführerin der AWO in Reutlingen.
Wie es überhaupt dazu kommt, dass immer mehr junge Frauen ihre Unterkunft verlieren? So manche "kriegt zuhause Stress, weil sie ungewollt schwanger wurde", führt Wilde als Beispiel an. Aber auch der andere Fall kommt immer wieder vor: Schwierigkeiten mit den Eltern führen dazu, dass die Mädchen sich ein Kind andrehen lassen - "als gedachter Ausweg".
Manche Eltern der jungen Frauen reagieren empört, entsetzt - und werfen die eigene Tochter aus der Wohnung. Wohin dann, wenn auch die letzten Freundinnen nicht mehr als Absteige taugen? "Alleinstehende Schwangere haben einen erschwerten Zugang zum Wohnungsmarkt", erläutert die Sozialpädagogin die Schwierigkeiten. Und bekanntermaßen ist billiger Wohnraum an der Achalm wahrlich Mangelware.
Zwar wurde nun über das Jugendamt in Reutlingen eine Wohngruppe für junge Mütter mit Kind eingerichtet - "eine wertvolle Einrichtung", wie Steinhilber betont - aber ausreichend sei auch die nicht. Zumal die Situation, mit Kind einen Job zu finden, ebenfalls nicht gerade die leichteste Übung ist. Wer also jung und schwanger ist und zu dem keine Ausbildung vorzuweisen hat - diese Frauen haben ganz schlechte Karten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.
Vor allem Frauen, aber auch immer mehr obdachlose Männer, sieht man den fehlenden Wohnsitz oftmals gar nicht mehr an. Denn: Wer noch das Bild von rucksackbepackten "Berber" im Kopf hat, lebt aus der Erinnerung. "Die gibt es schon seit Jahren nicht mehr", betont die AWO-Chefin.
Zu tun hat das damit, dass die Städte und Gemeinden vor einigen Jahren die so genannten "vertreibenden Hilfen" abgeschafft haben. Die Hilfen waren auf ein paar Tage beschränkt und die Obdachlosen mussten in die nächste Stadt weiterziehen.
In Reutlingen waren - vor allem dank des Einsatzes von Pfarrer Klaus Kuntz - vor einigen Jahren die "Oasen" eingerichtet worden, in denen Obdachlose Unterkünfte gefunden haben. Und auch die Notunterkunft in der Glaserstraße existiert heute immer noch. Dort wurde 1994 ein Zimmer für Frauen eingerichtet. Keine optimale Lösung, wie Wilde und Steinhilber betonen.
2002 wurden dann zwei Aufnahmeplätze in einer "Oase" geschaffen. Was der AWO nun noch dringend fehlt, "ist eine Frauenberatungsstelle", betont Rita Wilde. "Das wäre das Optimum." Sobald nämlich Männer ins Spiel kommen, geht das vermeintlich normale Rollenverhalten los: Männer spielen die Dominanten, Frauen ordnen sich unter.
"Da können sich Frauen nicht auf sich selbst konzentrieren", versichern die Sozialpädagoginnen. Sollten die obdachlosen Frauen aber wieder eine Wohnung finden, dann sind sie meist wesentlich schneller wieder in ein soziales Netz eingebunden und organisieren ihren Alltag mit einkaufen, kochen, waschen. Während in gleicher Situation Männer oftmals völlig hilflos dastehen.
Das Traurigste an der ganzen Situation: "Die knapp 450 Personen, die wir insgesamt im vergangenen Jahr hier beraten haben, das ist wirklich nur die Spitze des Eisberges", sagt Rita Wilde.
Denn der wirtschaftliche Aufschwung sorgt zwar für niedrigere Arbeitslosenzahlen, an den Ungelernten, an den Menschen ohne Ausbildung und ohne Qualifikation geht er aber schnurstracks vorbei. "Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem", sagt Gisela Steinhilber. Zumal immer mehr Menschen den Anforderungen der heutigen Zeit nicht mehr gewachsen sind.
Südwestpresse, 21.08.07

Letzte Änderung: 21.11.2007