Verlassene Kinder in Rumänien

06.10.2007 Materielle Not treibt rumänische Eltern zum Arbeiten ins Ausland. Leidtragende sind die Kinder.

In den vergangenen Monaten haben sich zwölf von ihnen umgebracht. Der Abschiedsbrief galt der Mutter. "Jetzt brauchst du mir auch kein Geld mehr zu schicken", schrieb der 12-jährige Stefan Ciurea, bevor er sich erhängte. Der Junge aus der Stadt Curtea de Arges in den Südkarpaten hatte das Schicksal von bis zu 170 000 Kindern in Rumänien geteilt: Seine Mutter ließ ihn allein, um in Italien zu arbeiten. Zwölf Kinder haben sich in den vergangenen Monaten das Leben genommen.
Die "Emigration" ist in Rumänien eines der meist diskutierten Themen. Seit 2002 ist die Zahl der Arbeitsemigranten explosionsartig angestiegen: Nach offiziellen Schätzungen arbeiten bis zu drei Millionen Rumänen im Ausland - 14 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Die meisten sind junge Erwachsende, viele davon Eltern kleiner Kinder. "Das Problem mit den Gastarbeiter-Waisen hat sich in den letzten fünf Jahren entwickelt", sagt der Bukarester Soziologe Ovidiu Voicu, der für die Soros-Stiftung eine Studie zum Thema abgeschlossen hat.
Das die Hauptaufnahmeländer Italien, Spanien und Frankreich den Bürgern des neuen EU-Landes keinen Familiennachzug gestatten, ist dabei "nur einer von mehreren Faktoren": Zwischen der Hälfte und zwei Dritteln der Auslandsrumänen arbeiten ohnehin illegal - ein Status, den man sich für schulpflichtige Kinder nicht vorstellen kann.
Nach einer repräsentativen Befragung von Schülern und Lehrern müssen zwischen 16 und 18 Prozent aller rumänischen Kindern zwischen 10 und 14 Jahren ein Elternteil entbehren: 80 000 nur den Vater, 55 000 nur die Mutter und 35 000 beide Eltern. Auch die Behörden erkennen an, dass es ein Problem gibt: Mehr als 20 000 Kinder seien von beiden Eltern verlassen.
Bei zwei Dritteln von ihnen sind die Großeltern für die Kinder zuständig, bei einem Viertel Tanten und Onkel, und um 11 Prozent kümmern sich, wenigsten offiziell, Nachbarn oder Fremde.
Die 20 000 Elternlosen sollen "sozial begleitet" werden. "Es gibt aber bis heute keine effiziente Sozialarbeit in Rumänien", sagt Voicu.
Materiell geht es den verlassenen Kindern oft besser als ihren Altersgenossen. "Die meisten Eltern schicken regelmäßig Geld", sagt Voicu. Trotzdem neigen die Kinder zu Depressionen und zu Alkoholmissbrauch und geraten nicht selten mit dem Gesetz in Konflikt.
Südwestpresse, 05.10.07

Letzte Änderung: 21.11.2007