Mit der Mutterrolle völlig überfordert

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26.02.2008 Kindstötung: Experten widersprechen Böhmer

Sachsen-Anhalts Regierungschef Böhmer führt die höhere Zahl an Kindstötungen in Ostdeutschland auf das DDR-Schwangerschaftsrecht zurück. Experten sehen eher soziale und seelische Nöte als Ursache.
Kindsmord als Mittel zur Familienplanung? Selten waren sich die Parteien so einig, dass Ministerpräsident Wolfgang Böhmer hier eine schwere Entgleisung unterlaufen ist. Auf die sich häufenden Babytötungen in Ostdeutschland angesprochen, ließ sich der Christdemokrat und Frauenarzt mit dem Urteil zitieren: Dies rühre auch aus einer "leichtfertigen Einstellung zu werdendem Leben in den neuen Ländern ". In der DDR war seit 1972 der Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche ohne Begründung straffrei zulässig gewesen.

Was im Osten selbst bei Leuten, die der DDR nie besonders wohl gesonnen waren, zurzeit bitter aufstößt, ist die regelmäßig wiederkehrende reflexartige Unterstellung, Menschen mit ostdeutschen Biografien mangele es an Moral und Ethik. "Und das im Jahr 18 deutscher Einheit ", so Brandenburgs Regierungschef Matthias Platzek (SPD).

So hatte Platzeks Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) - ein Ex- Bundeswehrgeneral - 2005 wegen einer Kindstötung in Ostbrandenburg behauptet, für die punktuelle Gewaltbereitschaft und Verwahrlosung in den neuen Ländern seien "Proletarisierung " und "zwangsweise Kollektivierung " unter dem SED-Regime verantwortlich. Zuvor meinte der Kriminologe Christian Pfeiffer (SPD), die Ursache für den Rechtsradikalismus zwischen Rostock und Chemnitz im kollektiven Nachttopfsitzen in DDR-Kinderkrippen ausgemacht zu haben.

Unlängst legte Pfeiffer aber mit Zahlen nach. Sein Kriminologisches Forschungsinstitut in Hannover arbeitet an einer Studie zu allen knapp 1000 gerichtlich abgeschlossenen Fällen von Kindstötungen durch Eltern in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt. Demnach ist die Gefahr für Kinder, von ihren Eltern getötet zu werden, im Osten drei- bis viermal höher als im Westen. Mit einer Bewertung dieser statistischen Werte hält sich der Institutschef indes zurück: "Wir sind noch nicht so weit, diese Ost-West-Unterschiede aufzuklären. "

Einen möglichen Erklärungsansatz sieht Pfeiffer darin, "dass es im Osten mehr junge Mütter gibt, die in sozialer Isolation und Armut aufwachsen und überfordert sind mit ihrer Mutterrolle ". Bei der Analyse von gut 150 Fällen kristallisierten sich drei Kategorien von Kindstöterinnen heraus: Zu 30 Prozent verheimlicht die Frau die Schwangerschaft, bringt das Kind allein zur Welt und tötet es dann oder überlässt es sich selbst. Dies seien "sehr isolierte Frauen ", die ihre Mutterrolle nicht annehmen wollen oder können, darunter auch Studentinnen. In gut der Hälfte der Fälle seien hingegen katastrophale Lebensbedingungen maßgeblich. Sie führten dazu, dass die oft überforderten jungen Eltern zunächst ihr Kind aufziehen wollen, aber versagten und es irgendwann zu Tode schüttelten oder ignorierten. Die dritte Gruppe bildeten psychisch kranke Frauen.

Böhmer relativierte inzwischen seine Aussagen und sieht sich zum Teil falsch zitiert. So habe der "Focus " nur Teile seiner Antworten veröffentlicht. Allerdings bleibt er dabei, dass die gewandelte Wertschätzung menschlichen Lebens aus DDR-Umständen rühren könne.

Böhmer war bis 1990 Chefgynäkologe einer Klinik in Wittenberg. Hierbei meint er beobachtet zu haben, dass sich "innerhalb weniger Jahre ein recht unbekümmerter Umgang mit werdendem menschlichen Leben eingebürgert " hätte. So habe es Frauen gegeben, die nur abtreiben ließen, "weil sie einen Urlaubsplatz am Schwarzen Meer in Bulgarien bekommen hatten und sagten: ,Da möchte ich nicht schwanger sein. "

Kritiker werfen ihm jedoch vor, dass heutige Kindsmörderinnen zum Ende der DDR noch Kinder waren. So sitzt im thüringischen Gera eine 24-Jährige in Haft, weil sie ihre sechs Wochen alte Tochter so schwer geschlagen hatte, dass sie starb. Die Mutter einer Babyleiche, die im thüringischen Nordhausen gefunden wurde, ist 27 Jahre alt und war offenbar von ihrer Lebenslage überfordert. Sie hatte sich zuvor an eine Selbsthilfegruppe gewandt.

Der Hallesche Psychotherapeut Hans Joachim Maaz, der als intimster Kenner der ostdeutschen Seele gilt, hält Böhmers Sicht für "sehr verkürzt ". Er führt die größere Zahl von Kindstötungen im Osten auf unsichere Existenzgrundlagen, Zukunftsängste und unerfüllte Hoffnungen zurück. Denn heute bekämen Mütter "viel weniger Unterstützung durch die Gesellschaft und die Familienpolitik als zu DDR-Zeiten ".

Viele Beobachter sind sich einig, dass ostdeutsche Frauen und Familien stärker als westdeutsche das Zutun des Staates vermissen. Doch auch im Westen reagierte die Politik darauf. Das Saarland hat bereits im April 2007 Zwangsbesuche beim Kinderarzt eingeführt. Auch Böhmer kündigte nun für Sachsen-Anhalt ein Gesetz an, Dank dem sich die Behörden stärker kontrollierend um "chronische Verwahrlosung in Familien kümmern " können.

Überdies nimmt die Zahl von Stimmen zu, die Babymorde allein auf politische Umstände zurückführen. Die Deutsch-Amerikanerin Elisabeth Bronfen, die seit langem zum Komplex "Weiblichkeit und Tod " forscht, ist sicher: "Wenn eine Mutter ihr Kind tötet, muss mehr vorliegen als Verwahrlosung. Und dieses Mehr ist das Gefühl des Alleingelassenwerdens. " Der Münchener Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer warnte nach einer Kindstötung in Brandenburg: Der nach jedem neuen tragischen Fall beschworene Mutterinstinkt sei "eine Illusion unserer individualisierten Gesellschaft ".
SÜDWEST PRESSE,26.02.2008

Letzte Änderung: 26.02.2008