Zu wenig Babys in Europa
Europa vergreist, sein Anteil an der Weltbevölkerung nimmt ab. Geht der Trend weiter, dann wird es 2050 nur noch fünf Prozent der Menschen dieser Erde stellen. Politischer wie wirtschaftlicher Einfluss sinken.
Charleroi im Winter. Nieselwetter hat die Place Charles II. mit ihren grauen Gebäuden leergefegt. Im Abendlicht spiegeln sich die Lichter im nassen Straßenpflaster. Scheppernd lassen die Pommes-Buden-Besitzer die Rollläden
herunter. Zwei Betrunkene torkeln über den Platz. Dann kehrt Stille ein.
Bis in die 70er Jahre ging es in der 50 Kilometer südlich von Brüssel gelegenen Stadt quicklebendig zu. Neben den Belgiern mischten Italiener den Alltag auf, zugewanderte Bergleute aus dem Piemont. Denn Charleroi war Zentrum der belgischen Schwerindustrie. Kohle, Stahl und Glas machten es zur zweitreichsten Metropole in Belgien. Doch außer Schutthalden ist von der alten Größe nichts geblieben. Kohlestaub und der Rauch der Hochöfen haben die Region ins "Pays Noir", ins "Schwarze Land" verwandelt. Die letzte Grube wurde 1984 geschlossen. Heute sind 30 Prozent der Bevölkerung arbeitslos, die Kriminalität blüht. Die Jungen ziehen weg, Alte dominieren das Straßenbild.
Charleroi könnte bald überall sein. Vor allem im Osten, wo Geburtenrückgang und Abwanderung bereits ganze Landstriche entvölkert haben. Charleroi steht für ein Phänomen, das sich in ganz Europa breit macht: Die Vergreisung. Die Europäer werden immer älter und von unten wächst nichts nach. Deutschland bildet da keine Ausnahme, im Gegenteil. Unser Land gehört zu den Schlusslichtern in der europäischen Geburtenstatistik. Selbst im kinderfreundlichen Italien ist die Lust auf Nachwuchs gedämpft. Das Land liegt bei der Geburtenrate an letzter Stelle.
Das bleibt auch für Brüssel nicht ohne Folgen. Die Experten für Regionalpolitik staunten zunächst, wenn ihnen Ministerpräsidenten aus den Ostbundesländern erklärten, sie wollten keine Aufbauhilfen mehr. Denn bei ihnen zuhause, etwa in Ost-Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern, ging es nicht mehr um den Ausbau der Infrastruktur, sondern um deren Abbau. Dörfer, in denen nur noch wenige Alte leben, brauchen keine neuen Kläranlagen oder moderne Zufahrtsstraßen. Sie verlangten ein Umdenken. Mit Erfolg. Neuerdings sind es Polen, die Hoffnung in die verödeten Landstriche tragen. Die Nachbarn kaufen Häuser im deutschen Grenzraum und pendeln von dort täglich zurück zu ihrem Arbeitsplatz in Polen. Europa macht es möglich.
Aber das sind Einzelerscheinungen, die am generellen Abwärtstrend nichts ändern. So lebten vor einem Jahrhundert noch mehr als 15 Prozent der Weltbevölkerung in den Ländern der heutigen EU. Derzeit sind es gut sieben Prozent. 2050 werden es gerade noch fünf Prozent sein. Europa, mit seinen 500 Millionen Menschen heute eine führende Wirtschaftsmacht, wird an Einfluss verlieren. Ökonomen der EU-Kommission warnen daher: Der Anteil an der Wertschöpfung dieser Welt - derzeit noch 24 Prozent - wird sich bei der Fortsetzung der gegenwärtigen Entwicklung halbieren.
Um gegenzusteuern setzt Brüssel auf eine höhere Beschäftigungsrate: Mehr Frauen in Arbeit und eine längere Lebensarbeitszeit. Zweitens: Produktivitätssteigerung durch eine bessere Schul- und Weiterbildung und den
Ausbau der Forschung sowie verstärkten Wettbewerb. Drittens: eine solide Haushaltspolitik. Denn je mehr alte Menschen es gibt, desto schwerere Lasten müssen die Staatskassen tragen. Daher gilt es, jetzt Schulden abzubauen,
bevor der demographische Knick, der in zwei bis vier Jahren erwartet wird, kommt. Denn der ist selbst durch eine massive Steigerung der Geburtenrate nicht mehr zu verhindern.
SÜDWEST PRESSE,01.03.2008
Letzte Änderung: 04.03.2008