1. MAI: Wider die Hungerlöhne

Vorschaubild

30.04.2008 Der Mensch arbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In Deutschland im Jahr 2008 trifft diese Aussage nicht in jedem Fall zu.

Denn Arbeit garantiert mittlerweile nicht mehr zwingend eine auskömmliche Existenz, ja noch nicht einmal das nackte Überleben. Friseure, Gebäudereiniger oder Floristinnen etwa kommen in verschiedenen Teilen der Republik auf Stundenlöhne von drei, vier oder fünf Euro. Der Staat muss mit Hartz IV aufstocken.

Eine Ursache der Misere ist die geschwundene Kraft der Gewerkschaften in den Niedriglohn-Branchen. So dümpeln beispielsweise die Tarifverhandlungen im Einzelhandel seit einem Jahr ergebnislos und weitgehend unbemerkt vor sich hin. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat in dieser Branche nicht mehr genügend kampfbereite Mitglieder, um ein für sie passables Ergebnis durchzusetzen. Es wurde immer wieder zu Streiks aufgerufen - ohne Wirkung allerdings, das Geschäft lief weiter. In anderen Branchen gibt es gar keine Tarifverträge mehr, es herrscht der Wilde Westen.

Diese Ohnmacht der Arbeitnehmervertretung schadet dem Gemeinwesen. Zu sehen ist das an den Hartz-IV-Aufstockern, den arbeitenden Armen. Deren Zahl ist von 950 000 im September 2005 auf 1,3 Millionen im Mai 2007 in die Höhe geschnellt. Parallel zum Wirtschaftsaufschwung boomt die Billigarbeit. Und die Aufstocker sind nicht, wie von wirtschaftsliberaler Seite oft behauptet wird, Hartz-IV-Empfänger, die sich mit dem Staatsgeld und einem Mini-Job bequem einrichten. Vielmehr arbeitet die Hälfte von ihnen in Teil- oder Vollzeit und wünscht sich Jobs, mit denen man die Existenz bestreiten kann.

Bei der Einführung des Arbeitslosengeldes II war das ganz anders geplant gewesen. Das Subventionieren schlecht bezahlter Arbeit wurde als Anschub gepriesen. Ziel sollte sein, Arbeitslose zu stärken und auf Dauer unabhängig zu machen. Die gute Konjunktur hat tatsächlich zu neuen, anständig bezahlten Stellen geführt. Doch Hartz IV fördert auch die Billigarbeit. Es ist ein neues Geschäftsmodell entstanden: Man gründet eine Firma, die durch Dumpinglöhne konkurrenzfähig wird. Die notwendige Lohnaufstockung bezahlt die Allgemeinheit, den Gewinn streicht der Unternehmer ein. So werden schlecht bezahlte Jobs geschaffen und zugleich ordentlich entlohnte vernichtet.

All diese Mechanismen führen dazu, dass die Gewerkschaften zum 1. Mai, dem Tag der Arbeit, vor allem einen gesetzlichen Mindestlohn fordern. Das Thema trifft die Gesellschaft im Kern. Es lässt sich nicht billig als Populismus oder SPD-Wahlkampfthema abschütteln. Und die Entscheidung darüber kann vor allem nicht bestimmt werden von der Riege eindimensional argumentierender neoliberaler Mainstream-Ökonomen, die den Mindestlohn ablehnen und dem Trugschluss aufsitzen, Wahrheit und Wissenschaft allein für sich gepachtet zu haben.

Der Mindestlohn ist ein hoch politisches Thema, die Gesellschaft muss drängende Fragen beantworten: Lassen wir Armuts-Entlohnungen zu? Fördern wir Arbeitsplätze, die es nur deswegen geben kann? Ist das der Weg, den die Gesellschaft einschlagen möchte?

Eine Lohnuntergrenze würde den staatlich subventionierten Lohndumping-Wettbewerb stoppen. Vor allem wäre sie aber ein wichtiges Zeichen dafür, dass die Gesellschaft nicht bereit ist, alles hinzunehmen, was eine ökonomische Ideologie als angeblich zwingend vorgibt. In Großbritannien etwa hat die Einführung des Mindestlohns keine Jobs gekostet, er bewahrt aber viele Menschen vor der Sozialhilfe. Die meisten europäischen Länder sehen den Mindestlohn als zivilisatorische Selbstverständlichkeit an. Warum Deutschland nicht auch?
Südwest Presse,30.04.2008

Letzte Änderung: 30.04.2008