Debatte um Demenzkranke

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19.05.2008 Bundesfamilienministerin warnt vor menschlicher Katastrophe

Bundesfamilienministerin warnt vor menschlicher Katastrophe
Die Zahl der Demenzkranken steigt. Behandlung und Versorgung sind teuer. Familienministerin von der Leyen setzt daher auf ehrenamtliche Hilfe.
Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) befürchtet für die Zukunft massive Versorgungslücken bei der Pflege von Demenzkranken. Unter Demenz versteht man den Verfall der geistigen Leistungsfähigkeit. Nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft gibt es aktuell eine Million Erkrankte. Diesen Menschen fällt es zunehmend schwer, Dinge und Personen wiederzuerkennen. Sie verlieren ihre Alltagsfähigkeiten. Jedes Jahr steigt die Zahl der Erkrankten um 250 000, berichtete von der Leyen. "Auf uns kommt eine menschliche Katastrophe zu, wenn wir das Thema weiter verdrängen ", sagte sie der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ". Die Gesellschaft stehe vor riesigen Herausforderungen, da professionelle Dienste allein die Pflege der Erkrankten nicht leisten könnten.

Die Ministerin, die in der eigenen Familie einen Demenzfall hat, wirbt für neue Netzwerke der Hilfe. "Es sind die jungen Alten, die sich einsetzen müssen, es ist meine Generation. Wir sind sehr viele. Wenn wir die 60 überschritten haben, dann werden wir uns kümmern müssen. " Wenn die ehrenamtlichen Strukturen heute nicht aufgebaut würden, "werden wir dramatisch scheitern, menschlich und ökonomisch ". Die CDU-Politikerin fordert, die Arbeitswelt so zu gestalten, dass die Pflege von Angehörigen ermöglicht wird.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, verwies darauf, dass Demenzkranke aus Kostengründen nicht die nötige Medizin erhielten. "Schon jetzt verursacht die einfache Behandlung dementer Menschen jährlich Kosten von 5,6 Milliarden Euro. " Sein Vorschlag: "Der Staat sollte die Pharma-Hersteller verpflichten, von jeder verkauften Arznei-Packung 50 Cent an die Kassen abzuführen. Durch eine solche Alzheimer-Abgabe könnten einige Milliarden Euro zusammenkommen ", sagte er der "Rheinischen Post ". Das Geld sollte in die Forschung fließen. Schon jetzt gebe es erste Mittel, welche die Demenz verzögern. "Doch diese Mittel sind sehr teuer, und die Kassen bezahlen sie nicht. Viele ältere Menschen bekommen damit nur eine Sauber-und-Satt-Pflege, aber keine optimale Behandlung ", sagte Hoppe. Die bessere Versorgung von Demenzkranken ist auch ein Schwerpunkt auf dem Deutschen Ärztetag, der morgen in Ulm beginnt.

KOMMENTAR · DEMENZ: Wider das Vergessen

Sie ist die Krankheit des Vergessens und des Vergessenseins. Unter Altersdemenz leiden in Deutschland immer mehr Menschen. Ihr erschütterndes Schicksal bleibt zumeist im Verborgenen. Die Gesellschaft blendet es lieber aus. Ihre Angehörigen, die sie zumeist aufopfernd pflegen, geben es - vom eigenen Schamgefühl geleitet - nicht preis.

Wenn nicht gelegentlich Prominente wie Ronald Reagan oder Angehörige Erkrankter wie zum Beispiel die Familie von Walter Jens an die Öffentlichkeit gingen, viele wüssten nicht, wie grausam diese Krankheit ist. Demenz, auch bekannt unter dem Namen Alzheimer, bringt die Erkrankten im Laufe der Zeit um ihre Erinnerung, ihre Sprache und schließlich um ihr eigenes Ich.

Das Nichtverstecken oder der öffentliche Umgang mit der Krankheit führen durchaus zu positiven Entwicklungen. Reagans Schicksal löste einen Spendenboom für die Demenz-Forschung aus. Die Anteilnahme an Jens Schicksal entfachte eine Debatte um die Folgen der Krankheit für unsere Gesellschaft.

Und die sind wohl mehr als alarmierend, wenn man Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen glauben darf. Sie gesteht, dass chronischer Geldmangel im Gesundheitssystem professionelle Pflege Demenzkranker verhindert. Weil sich daran in Zukunft wohl fast nichts ändern wird, müssten sich Freiwillige in der Pflege engagieren. Der Vorschlag, ein ehrenamtliches Netzwerk solle dem Pflegenotstand entgegenwirken, sollte nicht als Kapitulation gewertet werden, sondern als ein bedenkenswerter Appell. Vielleicht ist er sogar ein Weg, die in Sozialfragen auseinanderdriftenden Generationen einander näherzubringen. ULF SCHLÜTER

SÜDWEST PRESSE,19.05.2008

Letzte Änderung: 19.05.2008