Den Kapitalismus an die Kette legen

Vorschaubild

22.03.2009 IG Metall-Chef Berthold Huber: Finanz- und Wirtschaftskrise gefährden die Demokratie

Die Krise ist dramatisch. Unabsehbar sind die Folgen. Für die IG Metall stellt sich die Frage nach der Demokratie in der Wirtschaft. Berthold Huber sprach davon bei der Delegiertenversammlung und erinnerte daran, dass auch die Gewerkschaft im Kern getroffen ist.

Berthold Huber
Reutlingen. Die Delegiertenversammlung am Mittwochabend in der Rommelsbacher Wittumhalle, war eine erweiterte aus zwei Gründen: IG Metall-Chef Berthold Huber, zuletzt vor sechs Jahren bei der Verwaltungsstelle Reutlingen-Tübingen zu Besuch, referierte über taufrisch beschlossene Forderungen und Strategien der Gewerkschaft zur Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise - den tags zuvor in Frankfurt vorgestellten Aktionsplan. Die 280 Delegierten selbst diskutierten und verabschiedeten bei ihrem Treffen eine Entschließung zum selben Thema.

Kaum Zeit also für Rechenschaftsberichte und Formalien. Der Reutlinger Verwaltungsstellenleiter Gert Bauer dürfte deshalb auch den kürzesten Geschäftsbericht seiner Amtszeit abgeliefert haben, in dem freilich schon anklang, was der IG Metall größte Sorgen bereitet: 91 Mitglieder hat die Verwaltungsstelle binnen eines Jahres verloren, alles Krisenopfer, wie deshalb mittelbar auch die IG Metall eines ist. "Wir haben in vielen Betrieben Kurzarbeit, zum Teil in ganz erheblichem Umfang", sagte Bauer.

In einigen Unternehmen werde der Beschäftigungssicherungstarifvertrag angewendet, und bei Modine in Kirchentellinsfurt seien 39 Entlassungen geplant. "Wir müssen uns in die Hand versprechen, vor den Betrieben zu demonstrieren" und gegen die "Dreiklassengesellschaft" von Stammbelegschaft, befristeten Arbeitsverhältnissen und Leiharbeitern anzugehen. Es sollen aber auch Mitglieder geworben werden, um die IG Metall zu stärken.

Dass die Gewerkschaften geschwächt aus der Krise hervorgehen - darauf hofften die Unternehmer, sagte Huber in seinem anderthalbstündigen Vortrag, was es aber zu verhindern gelte. Sein Credo: "Die IG Metall muss in der Krise stark werden." Dann sei auch die Rückkehr zum Neoliberalismus "sehr unwahrscheinlich". Sollte dies aber nicht gelingen, sei nach der Krise mit einem "Boom von Leiharbeitern" und einer Schwächung der Arbeitnehmerseite zu rechnen.

Weil Wohlstand und Arbeitsplätze verloren gehen, habe die Krise die "Frage nach der Demokratie in Wirtschaft und Gesellschaft" auf die Tagesordnung gesetzt, weshalb die IG Metall ihren Einfluss geltend machen müsse.

Der Abschwung vollziehe sich in "einer einzigartigen Geschwindigkeit und Tiefe" und erzeuge einen "enormen Handlungsdruck". Keiner könne sagen, wie die Krise, "die sich zu einer Systemkrise ausweitet", ausgehe - ein Verhängnis, das seinen Lauf nahm, als man den Finanzkapitalismus von der Kette ließ.

Der Neokapitalismus sei in einem praktischen Großexperiment gescheitert. Man müsste sich eigentlich freuen, wenn es nicht so viele Opfer gäbe. Verantwortlich dafür macht Huber auch die Politik. Beispielsweise habe die Landesbank Baden-Württemberg mit ihrer Billigung den gesetzlichen Auftrag verlassen und Kapital verzockt: Fünf Milliarden Euro, die der Steuerzahler nun nachschießen müsse, hätte man in das Bildungssystem investieren können.

Die berechtigte Empörung müsse aber in eine Programmatik münden, in eine "intelligente Konjunkturpolitik" und eine breite gesellschaftliche Debatte, die Lehren aus dem Scheitern des Finanzkapitalismus ziehe. Nötig sei ein Schutzschirm für Beschäftigung, wie ihn der tags zuvor verabschiedete "Aktionsplan" fordere: Im Kern handelt es sich dabei um eine Zwangsanleihe von 100 Milliarden Euro auf große Vermögen, von denen Unternehmen der Realwirtschaft profitieren sollen.

Denn industrielle Wertschöpfungsketten und industrielle Kerne seien für Wohlstand und politische Stabilität mindestens so systemrelevant, wie die Banken für die Finanzmärkte, sagte Huber, was freilich nur mit Gegenleistung zu haben sei: Arbeitsplatzgarantien, "mehr Einfluss in den Betrieben", ein neues Verhältnis von Staat und Markt sowie eine Steuerreform, die Schluss mache mit der "negativen Umverteilung zugunsten der Reichen".

Eine "offensive Krisenstrategie" forderten auch die Delegierten in der anschließend einstimmig verabschiedeten Entschließung. Darin verlangt die IG Metall den Verzicht auf Entlassungen durch Anwendung von Arbeitszeitkonten, Kurzarbeit und Absenkung der Arbeitszeit unter 35 Stunden. Verlangt wird aber auch die Regulierung der Finanzmärkte, ein sozial zu gestaltender Strukturwandel, mehr Mitbestimmung und die gerechte Verteilung der Krisenlasten. Öffentlich erhoben werden diese Forderungen bei der regionalen Kundgebung am Mittwoch, 13. Mai, auf dem Reutlinger Marktplatz.
schw.tagblatt,20.03.2009

Letzte Änderung: 22.03.2009