Arbeitszeugnis im Test

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04.04.2011 Erst verschlüsseln, später enträtseln: Die Lobhudelei in Arbeitszeugnissen richtig zu deuten, grenzt an Detektivarbeit.

Arbeitszeugnis im Test - Nichts als Lyrik und Chichi

Erst verschlüsseln, später enträtseln: Die Lobhudelei in Arbeitszeugnissen richtig zu deuten, grenzt an Detektivarbeit. Ein Test von manager magazin zeigt, wie gängige Floskeln selbst Experten verwirren. Ihr Urteil über dasselbe Musterzeugnis schwankt zwischen "sehr gut" und "Katastrophe".

Das waren noch Zeiten. "Der Hartgummidrechsler W. war vom 18. September 1905 bis heute bei mir beschäftigt und hat die ihm zuerteilten Arbeiten zu meiner Zufriedenheit ausgeführt", heißt es in einem Arbeitszeugnis der thüringischen "Glasinstrumentenfabrik, Glasschleiferei und Holzwarenfabrik" aus dem Jahr 1906. Nur dieser eine Satz. Keine Tätigkeitsbeschreibung, keine Lobeshymnen, keine Schlussformel. Ein für damalige Verhältnisse durchschnittliches Zeugnis.

Heute, gut hundert Jahre später, wäre die Beurteilung für Hartgummidrechsler W. eine schallende Ohrfeige. Vor dem Arbeitsgericht hätte er die besten Chancen, eine ausführlichere und vor allem bessere Beurteilung einzuklagen. Bereits 1963 entschied der Bundesgerichtshof, dass sich ein Arbeitgeber nur mit Wohlwollen über den Arbeitnehmer äußern darf, um dessen weitere berufliche Zukunft nicht zu erschweren. Die Folge: Die meisten Zeugnisse strotzen vor Superlativen.

"Gute und sehr gute Beurteilungen werden inflationär verwendet", sagt Christian Sehn, Fachanwalt für Arbeitsrecht. "Die Arbeitgeber überschlagen sich vor Lobhudelei." Kritik formulieren sie aus Scheu vor zwischenmenschlichen oder juristischen Auseinandersetzungen nur noch zwischen den Zeilen. Im Laufe der Jahre hat sich daraus im deutschen Sprachraum eine Zeugnissprache entwickelt, die weltweit einmalig ist. Codierungen wie "...stets zu unserer vollsten Zufriedenheit" als Hinweis auf eine sehr gute Beurteilung sind gang und gäbe.
Die vermeintliche Geheimsprache ist Geschäftsgrundlage einer ganzen Branche. Buchautoren, Personalberater, Arbeitsrechtler helfen Arbeitnehmern und Personalern, die Codes in der Beurteilung zu entschlüsseln. Sucht man etwa bei Amazon nach dem Begriff "Zeugnissprache", listet der Online-Händler mehr als 200 Bücher auf.

Trotzdem regt sich in der Branche Kritik. "Die Zeugnissprache ist völlig überholt", sagt Personalberater Frank Adensam, für den Arbeitszeugnisse zum täglichen Geschäft gehören. Er habe schon viele Exemplare gesehen, die Karrieren zerstören könnten. "Ob das vom Chef so gewollt war oder nicht, ist fraglich." Viele Vorgesetzte, gerade in kleineren Betrieben, beschäftigten sich nicht oder nur wenig mit den Codierungen und stellten dem Arbeitnehmer ungewollt schlechte Bewertungen aus. "Eine berufliche Laufbahn sollte nicht davon abhängen, ob man Zeugnisfloskeln kennt oder so interpretiert, wie sie vom Aussteller gemeint waren."

Stört die Schlussformulierung oder die Verweildauer?

Dass selbst Experten ein Arbeitszeugnis unterschiedlich bewerten, zeigt ein Test, den manager magazin mit drei erfahrenen Personalern und einem Personalberater durchgeführt hat. Sie wurden gebeten, einen fiktiven IT-Berater anhand seines Arbeitszeugnisses zu beurteilen und ihm eine Schulnote zu geben. Ihre Bewertungen könnten unterschiedlicher nicht sein: Die Ergebnisse reichen von "sehr gut" bis zur "beruflichen Katastrophe".
Während sich einige Teilnehmer an der Schlussformulierung stören, achten die anderen auf die Verweildauer im Unternehmen. Selbst bei solchen harten Fakten gehen die Meinungen auseinander: Karrierecoach Jürgen Hesse vom Büro für Berufsstrategie Hesse/Schrader findet eine Verweildauer von zwei Jahren zu kurz für einen Mittdreißiger. Der mittelständische Türenhersteller Dorma dagegen hat an der Zeitspanne nichts auszusetzen, da die Fluktuation in der IT-Branche hoch sei.

Karrierecoach Hesse vergleicht Arbeitszeugnisse mit Benotungen in der Schule: Deutsch-Aufsätze werden von mehreren Lehrern häufig unterschiedlich bewertet. Ähnliches gelte für Arbeitnehmer. "Alles hängt davon ab, wie groß das Unternehmen ist und welcher Vorgesetzte das Zeugnis ausstellt." Oft spielten dabei das persönliche Verhältnis oder sogar Rachegelüste eine entscheidende Rolle.

Am Ende ist auf kein Zeugnis mehr Verlass

Zudem ist es in vielen Unternehmen üblich, dass sich Arbeitnehmer ihre Zeugnisse selbst schreiben - aus Bequemlichkeit oder weil ihre Chefs Konflikten aus dem Weg gehen wollen. Entsprechend dick trägt der Mitarbeiter in der Selbstbeurteilung auf. "Heraus kommt eine Aneinanderreihung von Superlativen", so Personalberater Adensam. Deshalb kämen auch zu gute Beurteilungen schlecht an.

Schlechte Beurteilungen gehören auf keinen Fall ins Zeugnis - guten aber wird misstraut. "Am Ende verlässt sich keiner mehr auf das, was im Zeugnis steht", fasst Adensam zusammen. Er plädiert deshalb für die Abschaffung der Zeugnisse in ihrer bisherigen Form. An ihre Stelle sollten neutrale Beschreibungen der Tätigkeiten treten, ohne jegliche Bewertung.

"Wenn der Arbeitgeber darüber hinaus eine Empfehlung aussprechen möchte, kann er das in einem Referenzschreiben nach angelsächsischem Prinzip machen", sagt der Personalberater. Unter der Überschrift "To whom it may concern" beschreibt ein Vorgesetzter in den USA und Großbritannien in wenigen Sätzen die Leistungen des Arbeitnehmers und empfiehlt dessen Einstellung. Anders als in Deutschland ist er jedoch nicht verpflichtet, ein Zeugnis zu schreiben.

Auch Karrierecoach Hesse spricht sich für die kurze Variante aus. "Eine neutrale Stellenbeschreibung und Bewertung in vier Zeilen sollten ausreichen. Alles andere ist nur Lyrik und Chichi."

Anja Tiedge (Jahrgang 1980) arbeitet als freie Journalistin in Hamburg.

Letzte Änderung: 04.04.2011